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Die Literaturwissenschafterin und Schriftstellerin Ruth Klüger über Lesesucht, ihre Vorliebe für Harry Potter, das Dilemma Holocaust-Überlebender und ihre jüngste Publikation, den Essayband "Was Frauen schreiben".
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Wiener Zeitung: Frauen hätten "einen Blick aufs Leben durch anders geschliffene Gläser", stellen Sie In Ihrem jüngsten Buch, "Was Frauen schreiben", fest. Wie darf man das von Heinrich Heine entlehnte Zitat verstehen? Ruth Klüger: Es lässt sich nicht im Voraus, oft nicht einmal während der Lektüre eines Textes mit Bestimmtheit sagen, ob er von einer Frau oder einem Mann geschrieben wurde. Das spielt häufig auch gar keine Rolle. Trotzdem wird oft deutlich, dass in vielen Romanen von Autorinnen weibliche Erfahrungen eine enorme Rolle spielen. Frauen schreiben beispielsweise anders übers Kinderhaben, oder über Geburt und Gebären, was in von Männern geschriebenen Büchern so gut wie nie vorkommt: Üblicherweise verschwindet bei ihnen die Frau aus dem Handlungsverlauf - und taucht später mit einem Baby wieder auf. Der Hergang der Geburt kommt kaum zur Sprache. Dagegen sind männliche Wehwechen vielfach belegt.
Menstruation war lange kein literarischer Topos.
Man denke nur an den Skandal, den Thomas Manns Novelle "Die Betrogene" in den fünfziger Jahren auslöste! Der Schriftsteller erzählt in dem Text über eine Witwe, die ihren 50. Geburtstag feiert und davon überzeugt ist, wieder zu menstruieren, weil sie sich verliebt hat; schließlich muss sie feststellen, dass es ein Blutsturz war und sie an Krebs leidet. Heute kann man über weibliche Sexualität und Körpererfahrung immerhin ganz anders sprechen und viel freier schreiben. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass Frauen mehr publizieren als früher.
Wäre ein weiblicher Literaturkanon nicht schon längst vonnöten?
Solch einen Kanon, der sich leicht zusammenstellen ließe, läse ich mit großem Interesse. Wichtiger scheint mir jedoch, dass sich unser literarischer Schatz insgesamt erweitert, dass mehr Autorinnen darin aufgenommen und nicht mehr abgedrängt werden - was erfreulicherweise zunehmend passiert. In diesem Zusammenhang mag es bestimmt förderlich sein, wenn eine Frau den Literaturnobelpreis erhält. Daran erkennt man noch immer die Außenseiterposition von Autorinnen im Literaturbetrieb: Bekommt eine Frau eine wichtigen Auszeichnung zuerkannt, wird das immer noch mit Rufzeichen versehen.
In dem Band sind etliche Ihrer Rezensionen aus den vergangenen Jahren versammelt: Die Auswahl reicht von Nobelpreisträgerinnen und Bestsellerautorinnen bis zu Debütantinnen, dazu gesellen sich Werke von in Vergessenheit geratenen Dichterinnen. Wie kam es zu der Zusammenstellung?
Es ist eine Mischung aus Zufall und Vorliebe. Der Band vereinigt Bücher, die ich empfehlen kann. Eine besondere Neugier auf Literatur aus mir fremden Ländern hat mich überdies zu Geschichten aus Afrika, China, Japan geführt.
Überraschend ist Ihre Vorliebe für die Harry-Potter-Reihe, die, so Ihr Urteil, "vielleicht einfallsreichsten Kinderbücher, die es je gegeben hat".

Die Harry-Potter-Bücher haben das Potenzial, zu Klassikern der Kinderliteratur zu avancieren. Obwohl der Held ein Bub ist, verteilt J.K. Rowling beispielsweise die Rollen auffallend geschlechtsneutral: Helden und Bösewichte sind zu gleichen Teilen weiblich und männlich besetzt. Die Bücher sind international ausgerichtet, in erstaunlicher Art antirassistisch, also hochmoralisch in einem modernen Sinn.
Mögen Sie Krimis?
Sehr. Ich schätze es besonders, wenn eine Detektivin auftritt. Es gibt auffallend viele Kommissarinnen in Büchern und TV-Serien, die als Projektionsfläche für ein weibliches Publikum ganz wunderbar funktionieren: Die Kommissarinnen zögern nicht, den Männern eins überzuziehen, sie sind selbstbewusst und mutig.
Welche Bedeutung hat Literatur in Ihrem Leben?
Sie bedeutet mir alles. Es ist mir unvorstellbar, ohne Literatur zu leben. Das Ärgste, was mir passieren könnte, wäre Blindheit. Ich bin geradezu lesesüchtig, lese wahrscheinlich fast schon zu viel. Ich erinnere mich dabei an meine Zeit in Wien. Wir führten damals ein dramatisch eingeengtes Leben. Das Einzige, was es gab, waren Bücher, ich habe alles Mögliche gelesen.
Den meisten Lesern sei eine "oberflächliche Tiefsinnigkeit in Sachen Nazizeit lieber", merken Sie in einer Ihrer Rezensionen an. Was meinen Sie damit?
Ich denke an das sentimentale Händeringen, das dieser Tage jedem gelingt. Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung hat dazu geführt, dass ein tränenvolles Bedauern als ehrlicher Beitrag zur Debatte gewertet wird. Das ist es aber nicht. Dieses "Oh, wie schrecklich" erscheint mir unehrlich, und langweilig ist es außerdem. Gerade beim Holocaust ist Tiefsinnigkeit gefragt.

An anderer Stelle bemerken Sie, dass man sich dem Holocaust nicht mit Ehrfurcht nähern sollte. Das verkrampfe das Denken.
Es ist schwer, mir bei diesem Thema etwas Recht zu machen. Beeindruckt war ich von Herta Müllers Roman "Atemschaukel", ein Buch, das den Holocaust gar nicht behandelt.
Der Roman der Literaturnobelpreisträgerin berichtet von der Deportation deutsch-stämmiger Rumänen nach dem Zweiten Weltkrieg in die damalige Sowjetunion. Der Protagonist resümiert darin die Zeit nach seiner Entlassung: "Das Lager blieb innerlich bestehen." Sie selbst durchlitten die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt. Die Zeit im Lager ist die unauslöschlichste Erfahrung. Die Kindheit und Jugend ist nie wegzuwischen. Ich lebe auch aus diesen Erfahrungen heraus, was aber nicht heißt, dass ich nur von Schreckensbildern umgeben bin - sonst könnte ich mich etwa nicht so mit Harry Potter amüsieren.
Im Gedicht "Wiener Neurose" schreiben Sie, dass Ihnen eine "Faser" vom Strick des Henkers im " Genick" haften blieb.
Das ist es. Es ist nicht der ganze Strick, etwas ist da, und es ist nicht wegzukriegen.
Sie wurden aus Ihrer Heimatstadt vertrieben. Ihre autobiographischen Bücher weisen dennoch einen Wienerischen Tonfall auf.
Ich werde oft gefragt, wieso ich in der ganzen Zeit nicht den österreichischen Dialekt abgelegt habe. Wichtig war mir beim Schreiben das Authentische, und das war nur möglich in der Sprache, die ich als Kind gelernt hatte. Wenn ich unsicher war, ob ein Ausdruck zutreffend sei, habe ich sozusagen das Mäderl in mir konsultiert. Ich habe mich von Fremdwörtern ferngehalten, war vielmehr auf der Suche nach Wörtern, die in meine eigene Sprache passen.
Sie haben auch einmal gesagt: Wien schreit nach Antisemitismus.
Es gab hier weitaus weniger Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit als in Deutschland.
"Das alte Dilemma der Überlebenden und ihrer nachgeborenen Familien", zeigen Sie in einer Ihrer Besprechungen auf: "Entweder erzählen die Eltern zu viel und verschrecken dadurch die Kinder, oder sie erzählen zu wenig und verweigern ihnen eine Geschichte, die indirekt auch die ihrige ist. Wie man´s macht, ist es falsch." Wie haben Sie das Problem gelöst?
Wahrscheinlich schlecht, jedenfalls nicht ausgewogen. Ich glaube, dass ich zu wenig erzählt habe, weil ich nicht in der Vergangenheit rühren, sondern in die Zukunft blicken wollte. Wenn meine Kinder mich danach gefragt haben, habe ich geantwortet - allein: Sie fragten nicht oft.
Der Vater meiner Söhne, mein Ex-Mann, war in der US-Armee, ein Held des Zweiten Weltkriegs, von ihm hörten sie mehr als von mir. Sie hatten einen Vater, der Europa befreite.
Den Versuch der Kriegsgenera- tion, in der Wohlstandsgesellschaft "den Anprall der erinnerten Katastrophen zu verdauen", beschreiben Sie als notgedrungen gescheitert.
Erinnerung ist immer unverdaulich. Es herrscht eine Kluft zwischen jenen Umständen, in denen man die Kindheit und die ersten Jahre danach verbrachte, und dem Heute. Da gibt es keine Brücke, man weiß nicht, wie man von dem einen Zustand zum anderen gelangte. Für mich waren die fünfziger Jahre eine Zeit der Falschheit. Die Wohlstandsjahre, in denen man versuchte, alles zu glätten. Das ging natürlich überhaupt nicht, das war eine völlig falsche Herangehensweise, menschlich jedoch verständlich: Man wollte nicht in den Traumata, die man erlebt hatte, wühlen.
Ihre Kindheitserinnerungen wurden in viele Sprachen übersetzt, das Buch ist ein Bestseller. Was bedeutet Ihnen dieser Erfolg?
Ich habe diese Autobiographie in einer Art geschrieben, wie man Freunde von etwas informieren will, was einem passiert ist. Der Erfolg hat mich damals völlig verblüfft - und erstaunt mich nach wie vor. Für mich war es der Anfang einer neuen Lebensphase. Durch den Bucherfolg hatte ich in Deutschland und Österreich plötzlich etwas zu tun, konnte mich in diesen Ländern aufhalten, ohne nur Touristin sein zu müssen.
Durch die Aufmerksamkeit, die dieses Buch erlangte, konnte ich auch mit meinen germanistischen Arbeiten herauskommen, die meisten davon sind inzwischen ins Deutsche übersetzt, obwohl die Kollegen in Österreich und Deutschland bis dato kaum je aufgreifen, was ich etwa über Kleist und Lessing zu sagen habe - zumindest sehe ich keine Anzeichen dafür. Eine Auslandsgermanistin - das ist für die Herren der Zunft offenbar zuviel.
In "unterwegs verloren", dem zweiten Teil Ihrer Autobiographie, kritisieren Sie das mangelnde Interesse der Kollegenschaft während eines Forschungssemesters am Wiener Germanistikinstitut.
Der mittlerweile leider verstorbene Wendelin Schmidt-Dengler hat das Buch damals sehr freundlich rezensiert und gemeint, dass er sich meine Kritik, wiewohl er es nicht so empfunden habe, zu Herzen nehmen werde.
Da muss ich im Nachhinein Abbitte leisten. Die Ignoranz und das Desinteresse der übrigen Kollegen, die Studierenden ausgenommen, waren dennoch auffallend.
Sie berichten in "unterwegs verloren" auch vom Kampf, sich in einem von Männern dominierten Beruf zu behaupten.
Ich wollte verhindern, dass man nach "weiter leben" meinen könnte, meine Zeit in den USA sei ganz fabelhaft verlaufen. Dem war beileibe nicht so. Im Gegenteil: Es war schwer, zumal als Frau und noch dazu als Jüdin. Mein Berufseinstieg als Germanistin verlief parallel zur zweiten Frauenbewegung, der ich viel verdanke.
In der Arbeitswelt der Gegenwart verdienen die meisten Frauen nach wie vor weniger, die beruflichen Aufstiegschancen sind gering.
Ich kann nur sagen, dass sich sehr vieles verbessert hat. Meiner Ansicht nach liegt jetzt die Gefahr eher darin, dass Frauen sich zurücklehnen, weil sie fälschlicherweise annehmen, sie hätten bereits alles erreicht. Ich vertrage es nicht, wenn behauptet wird, wir seien in einer postfeministischen Ära. Das hat man nach der ersten Frauenbewegung auch schon gedacht.
Die Frage Vollzeit- oder Karrieremutter ist Dauerthema der feministischen Debatte. Über die Schwierigkeit, Kind und Beruf zu vereinen, haben Sie auffallend wenig geschrieben. Vielleicht deshalb, weil ich keine andere Wahl hatte und Geld verdienen musste. Ob das negative Folgen für die Entwicklung meiner Söhne hatte? Ich weiß es nicht. Als Mutter macht man sich stets Vorwürfe, wenn sich das Leben der Kinder nicht so wunderbar gestaltet, die Gesellschaft hängt einem zudem alle Fehler um. Umgekehrt trifft dies weitaus seltener zu: Hat der Nachwuchs Erfolg, sagt selten jemand, dass dies wohl an der Mutter liegen müsse.
Hat sich Ihr Kämpfen gelohnt?
Ich sehe das ambivalent. Irgendwie hat es sich natürlich gelohnt, was hätte ich sonst machen sollen? Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, bin ich nicht immer glücklich. Ich hätte mir eine andere Zeit gewünscht als jene, in die ich geboren bin. Es war keine gute Zeit und für ein Judenkind definitiv die falsche Stadt. Aus all diesen Erfahrungen habe ich etwas gemacht, ich bin auf die Füße gefallen.
Als ich nach dem Krieg in Amerika ankam, wollte ich weg von allem Deutschen. Das ist mir nicht gelungen, ich bin wieder dorthin zurückgekehrt. Ursprünglich wollte ich etwas anderes aus meinem Leben machen, Hebräisch sprechen, nach Israel auswandern. Zu Beginn der zionistischen Bewegung lautete unsere Vision, Israel soll nicht nur ein Heimatland der Juden, sondern ein gerechter Staat sein, ein Vorbild für andere. Inzwischen wissen wir, dass alle Staaten für ihre eigene Sicherheit und ihre eigenen Interessen kämpfen.
Was bedeutet Ihnen Heimat?
Ich verwende diesen Begriff nicht. Ich mag ihn nicht.
Und Wien?
Wien ist meine Geburtsstadt, nicht meine Heimat. Die Stadt bedeutet mir etwas auf eine ganz besondere Weise, die ich nur schwer erklären kann. Neulich war ich in der Lindengasse, in der Gegend, in der ich als Kind gelebt habe. Die Vertrautheit mit den Gassen, der untrügliche Orientierungssinn war mir zugleich unheimlich. Wien ist für mich keine warmherzige Stätte, ich könnte mir nicht vorstellen, permanent hier leben zu müssen, obwohl ich gern zu Besuch komme. Ich muss mich stets vergewissern, dass ich hier wieder wegkomme.

Zur Person
Ruth Klüger, geboren 1931 in Wien, wurde als Halbwüchsige mit ihrer Mutter nach Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt verschleppt.
Im 1992 erschienenen, weltweit rezipierten Erinnerungsbuch "weiter leben" schildert Klüger die systematische Ausgrenzung von Juden in ihrer Geburtsstadt und die Odyssee durch drei Konzentrationslager. Der zweite Teil der Autobiographie, "unterwegs verloren" (2008), beschreibt die Ankunft der 16-jährigen Emigrantin in New York und die Widerstände, gegen die Klüger ankämpfen musste, um in Amerika Fuß zu fassen. Die allein erziehende Mutter zweier Söhne kann sich schließlich als Germanistin und Autorin etablieren. Als eine der ersten Professorinnen ihres Faches lehrt die Literaturwissenschafterin an verschiedenen US-Universitäten, darunter auch an der Elite-Uni Princeton. Seit ihrer Emeritierung lebt Klüger in Irvine, Kalifornien, und in der deutschen Universitätsstadt Göttingen.
Ihr jüngstes Buch, "Was Frauen schreiben" (Zsolnay, Wien 2010, 272 Seiten, 19,90 Euro), versammelt Rezensionen, ursprünglich für eine Kolumne im Branchenblatt "Literarische Welt" verfasst. Mit Ausnahme von Henning Mankells "Daisy Sisters" sind die empfohlenen Werke ausschließlich von Autorinnen geschrieben. Klügers bestechende und international angelegte Zusammenstellung vereint Debütantinnen und Routiniers, reicht von der Bestsellerautorin J. K. Rowling über die Nobelpreisträgerin Herta Müller bis zur in Vergessenheit geratenen Agota Kristof. Das Resultat ist ein so anregendes wie vielfältiges Bild vom gegenwärtigen literarischen Schaffen von Frauen.
Petra Rathmanner, geboren 1971, Studium in Wien, New York und Paris, arbeitet seit 2004 als Redakteurin und Theaterkritikerin bei der "Wiener Zeitung".