Oppositionspolitiker beklagt mangelnde Demokratie. | Wien. Zu seinem 57. Geburtstag hat Russlands Regierungschef Wladimir Putin die Schrifsteller des Landes zu einem Stelldichein geladen. Neben der "Rolle der Literatur bei der Entwicklung der Gesellschaft" stand auch eine "freie Diskussion über die aktuellen Probleme des Landes" auf der Wunschliste des Gastgebers. Viele der Geladenen sagten höflich ab. Sie machten Termin- oder Gesundheitsprobleme geltend - Russlands Machthaber zu düpieren wagt niemand. Doch die bestellten Meinungsbekundungen, mit denen die russische Staatsmacht den Anschein eines demokratischen Systems wahren will, sind nicht jedermanns Sache.
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Nicht nur die Intelligenzia, auch Teile des politischen Establishments, der städtischen Mittelklasse und der Wirtschaft sehnten sich durchaus nach einem Ende des Putinschen neo-sowjetischen Autokratismus und mehr politischem, gesellschaftlichem und ökonomischen Wettbewerb, ist der russische Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow überzeugt. Immerhin stehe trotz Gleichschaltung der Medien und täglicher Politpropaganda ein Fünftel der russischen Bevölkerung westlichen Werten wie demokratischem Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und freier Meinungsäußerung positiv gegenüber.
Politisch artikulieren könnten sich die liberaleren Kräfte allerdings nicht, seit Putin vor zehn Jahren die demokratischen Errungenschaften der Postsowjet-Zeit rückgängig gemacht habe. "Sie haben keine Repräsentanten mehr im Parlament und keine Partei, die sie dort vertritt", so Ryschkow bei einem Vortrag im Bruno-Kreisky-Forum in Wien anlässlich des dritten Jahrestages der Ermordung der kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja.
Putin und kein Ende
Die Hoffnung auf eine Ablöse des derzeitigen Führungszirkels in den kommenden Jahren hat er nicht. "Wir sind heute in Russland sehr beschäftigt, Putin als Präsidenten auf Lebenszeit zu installieren", meint der Gründer der "Republikanischen Partei", die bei der Parlamentswahl 2007 ebenso wie viele andere kreml-kritische Parteien nicht antreten durfte, zynisch. Sollte Putin, wonach es ganz aussieht, bei der Wahl 2012 wieder antreten, "wäre er bis 2024 im Amt und damit sogar länger als Breschnjew oder Stalin". Dass Putin in breiten Teilen der Bevölkerung hohe Popularität genießt, führt Ryschkow auf die Schockerfahrungen der 1990er Jahre zurück, die noch immer tief in den Knochen sitze. Damals bekamen die Menschen keine Löhne ausbezahlt und verloren aufgrund der Rubelentwertung ihre gesamten Ersparnisse. Das Durchschnittsgehalt sei in Russland mit 330 Dollar monatlich zwar auch heute noch sehr niedrig - weshalb 80 Prozent der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze lebe -, "aber die Menschen freuen sich, dass sie überhaupt etwas bekommen". Solange dies der Fall ist, werde das Volk sich auch nicht auflehnen.
Putin sei es somit zwar gelungen, im Land eine gewisse Stabilität zu schaffen - "modernisieren kann dieses System Russland aber nicht".