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Saatgut-Tresor im Dauerfrost

Von Roland Knauer

Wissen
Der Wintervorrat eines Arktischen Erdhörnchens wurde zur wissenschaftlichen Sensation.
© corbis

Russische Botaniker erweckten Samen nach rund 32.000 Jahren zum Leben.


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Berlin. Als das Arktische Erdhörnchen vor rund 32.000 Jahren im Nordosten Sibiriens seine Speisekammer in den Boden grub, konnte es kaum ahnen, dass sein Wintervorrat eine wissenschaftliche Sensation werden würde. Denn das kleine Nagetier kam offensichtlich nicht mehr dazu, die weit mehr als hunderttausend Samen und Früchte zu knabbern, die es eingelagert hatte.

Weil Hochwasser des nahen Flusses später viel Schlamm über dem Bau ablagerten, lag der Vorrat lange unangetastet in 38 Meter Tiefe bei arktischen Temperaturen von minus sieben Grad Celsius im Permafrostboden. Als Svetlana Yaschina, David Gilitschinsky und ihre Kollegen von der Russischen Akademie der Wissenschaften in Puschtschino einige dieser Samen wieder zum Leben erweckten, hatten sie einen Weltrekord aufgestellt: Die längste Zeit bis zum Keimen hatte bisher der knapp 2000 Jahre alte Samen einer Dattelpalme ausgeharrt, der 2005 in Israel zu einer stattlichen Pflanze wuchs.

Jedoch mussten die Forscher ihr ganzes Können in die Waagschale werfen. Die Samen aus Sibirien wollten auf natürlichem Weg nicht keimen und zu einem richtigen Leimkraut der Art Silene stenophylla wachsen. Das lag vermutlich an der natürlichen radioaktiven Strahlung, die auch tief unter der Erde das Erbgut des Nachwuchses verändert. "Nach 30.000 Jahren könnten sich so viele Mutationen angehäuft haben, dass der Pflanzenembryo nicht mehr lebensfähig ist", erklärt Andreas Graner vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) im deutschen Gatersleben. Erst als die russischen Botaniker Nährgewebe aus unreifen Samen holten und es in eine künstliche Nährlösung im Labor legten, vermehrten sich die Zellen. Aus dieser Kultur zogen sie mit einigen Tricks Ableger dieser für Nordostsibirien typischen Polsterpflanze, die später sogar blühten und sich vermehrten. Die Gewächse waren nach mehr als 30.000 Jahren aus ihrer Winterstarre aufgewacht.

Natürliches Gefriertrocknen

Geklappt hat dieses Wiederaufwecken durch eine Art natürliches Gefriertrocknen: In der eisigen Kälte des nordostsibirischen Winters friert alles Wasser im Boden zu festem Eis. Zwischen den einzelnen Eiskristallen ist der Boden knochentrocken. Auch im Hochsommer tauen dort allenfalls die obersten 70 Zentimeter, während tiefere Schichten gefroren bleiben. Samen brauchen zum Keimen aber Feuchtigkeit. "Gleichzeitig verlangsamt die Kälte alle Lebensvorgänge und die Samen verbrauchen ihre Vorräte kaum", so Andreas Graner. Deshalb bleiben sie in dieser natürlichen Gefriertrocknung sehr lange lebensfähig.

Jedoch klappt das keine Jahrtausende lang. Bei den Samen aus Sibirien war eine aufwendige Zellkultur nötig. Genau diese Situation versuchen die IPK-Forscher zu vermeiden. "Wir sind für 150.000 Pflanzenproben verantwortlich, deren genetische Vielfalt wir erhalten sollen", so Graner über die Aufgaben des Instituts. Dabei handelt es sich um Getreidekörner und Samen von Heilkräutern oder Gemüsepflanzen. Also um alle Pflanzen und ihre Varietäten, die Bauern auf ihren Feldern haben.

Sicherung auf Spitzbergen

Pflanzenzüchter können dann vom IPK Proben beziehen, mit denen sie arbeiten können. Die Samen werden ähnlich wie in Sibirien aufbewahrt. Zunächst wird möglichst optimales Saatgut gewonnen, danach die Restfeuchte in Trockenkammern auf sechs Prozent reduziert. Ein winziger Teil der Ernte wird dann getestet, ob er auch gut keimt. Nach einem positiven Ergebnis wird zum Beispiel rund ein Kilogramm Getreidekörner in ein Einsiedeglas gegeben und luftdicht geschlossen.

Das Ganze wird in großen Kammern bei der typischen Gefriertruhen-Temperatur von minus 18 Grad Celsius gelagert. Ewig bleiben die Proben auch bei dieser Lagerung nicht keimfähig. Gerste und Weizen können 20 oder 30 Jahre, der relativ nahe verwandte Roggen nur zehn oder 15 Jahre gelagert werden. Danach wäre die Keimfähigkeit zu gering und das Risiko zu groß, die Probe zu verlieren. Also wird immer wieder die Keimfähigkeit getestet. Ist sie zu gering, werden Getreideproben auf den zwei Quadratmetern von einer der rund 5000 Parzellen ausgesät, auf denen in Gatersleben die nächste Sicherheitsreserve wächst. Gemüseproben wandern in eines der 150 Gewächshäuser, in denen eigens für diesen Zweck gezüchtete Bienen die Blüten befruchten. Nach der Ernte werden die Proben wieder in den Kühllagern in eingelagert.

Eine Sicherungskopie der Samen wird nach Spitzbergen gebracht. Auf dieser von Norwegen verwalteten Inselgruppe im Nordpolarmeer hat eine Stiftung einen "Saatgut-Tresor" 120 Meter tief in den Dauerfrostboden hinein gebaut. Auch andere Saatgutbanken der Welt lagern dort Samenreserven. Fällt die Kühlung auf minus 18 Grad Celsius aus, kühlt der Dauerfrostboden immerhin noch auf minus drei Grad. Obendrein liegt Spitzbergen weit weg von Krisengebieten und in einer Region, in der auch keine Naturgewalten den Tresor gefährden. Aber auch die Sicherungskopien sind nur begrenzt haltbar und müssen regelmäßig ersetzt werden.

Viele Getreidearten kommen ursprünglich aus dem Nahen Osten. Gefährdet der Bürgerkrieg in Syrien die dortige Saatgutbank, bleiben die Stammeltern des Weltgetreides immerhin im Nordpolargebiet sicher. Nur so lässt sich eines der wertvollsten Kulturgüter aus vielen Jahrtausenden Menschheitsgeschichte sichern - die Vielfalt der Nutzpflanzen.