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Sag mir, wo die Mädchen sind...

Von Heiner Boberski

Wissen

Vor allem in China und Indien ist die Geschlechterrelation stark verzerrt.


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Dem indischen Medizinstudenten Puneet Bedi schießt in den 1970er Jahren aus einem Kreißsaal eine Katze entgegen, der ein blutiger Klumpen aus dem Maul hängt, er erkennt darin einen Teil eines fünf bis sechs Monate alten Fötus. Auf der Station, in der Bedi in jener Nacht mehr Abtreibungen als Geburten erlebt, scheint es keinen zu scheren, dass eine Katze einen Fötus frisst. Warum wurde der Fötus nicht achtsamer entsorgt? "Weil es ein Mädchen war", lautet die kühle Antwort, zitiert in Mara Hvistendahls Buch "Das Verschwinden der Frauen".

Die amerikanische Journalistin beschreibt, wie es im Untertitel heißt, "Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen", eine vor allem in asiatischen Ländern verbreitete Problematik, die bereits eine lange Vorgeschichte hat.

"Eine Präferenz für Buben gab es in fast allen traditionellen und patriarchalisch organisierten ländlichen Gesellschaften", sagt der namhafte österreichische Experte Wolfgang Lutz. Er leitet das Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien sowie das Wiener Institut für Demografie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und das Weltbevölkerungsprogramm am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg. Er meint: "Söhne bedeuteten für die Eltern auch größere materielle Sicherheiten und weniger Ausgaben für die Mitgift. Nur konnte man früher das Geschlecht vor der Geburt kaum beeinflussen. Dafür gab es in extremen Fällen direkte Kindestötung oder viel häufiger unterschiedliche Pflege von Mädchen und Buben. Besonders stark war dies in Indien ausgeprägt, wo als einziges Land der Welt bis vor 15 bis 20 Jahren die Kindersterblichkeit für Mädchen deutlich höher war als für Buben."

Hvistendahl betont in ihrem Buch: "Seitdem die Demografen Geburtenzahlen aufzeichnen, registrieren sie, dass auf 100 neugeborene Mädchen durchschnittlich 105 neugeborene Jungen kommen. Das ist unser natürliches Geschlechterverhältnis bei der Geburt." Nur in äquatorialen Breiten würden aus unbekannten Gründen mehr Mädchen geboren. Buben und junge Männer leben meist gefährlicher, damit gleicht sich die Relation der Geschlechter bis ins Heiratsalter weitgehend an. Doch in einigen Ländern ist das Geschlechterverhältnis durch die dortige Familienpolitik und Abtreibungspraxis in ein deutliches Ungleichgewicht geraten.

Man müsse die Geschlechterrelation bei der Geburt und jene in der Gesamtbevölkerung unterscheiden, sagt Lutz: "Bei der Geburt ist derzeit in China das Verhältnis am stärksten verzerrt: Es kommen rund 120 Buben auf 100 Mädchen. Da dieses Phänomen in China durch pränatale Diagnostik erst relativ kurz existiert und gleichzeitig Frauen eine längere Lebenserwartung haben, kommen derzeit in der chinesischen Gesamtbevölkerung rund 108 Männer auf 100 Frauen. In Korea war dieses Phänomen früher noch stärker ausgeprägt als heute in China, hat sich aber inzwischen fast normalisiert. Es ist auch zu erwarten, dass es sich in China langsam normalisiert."

Wie im Wilden Westen

Das brisante Thema hat auch Mo Yan, der chinesische Literaturnobelpreisträger von 2012, in seinem viel diskutierten Roman "Frosch" (das traditionelle Symboltier für Geburten in China) aufgegriffen: Eine Ärztin - Vorbild für diese Figur soll die Tante des Autors gewesen sein - gerät in einen heftigen Gewissenskonflikt zwischen der staatlichen Geburtenkontrolle und dem Wert des einzelnen Lebens.

Faktum ist, dass nicht nur in China und Indien, sondern etwa auch in Vietnam, Aserbaidschan, Georgien oder Armenien die Zahl der Buben jene der Mädchen weit übersteigt. Das bedeutet - gerade in Kulturen, in denen der Mann erst als Familienvater seinen vollen Stellenwert bekommt -, dass viele Männer keine Ehefrauen mehr finden können, weil zu wenige heiratsfähige Mädchen da sind. Hatte der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen schon 1990 davor gewarnt, dass in Asien mehr als 100 Millionen Frauen fehlen, so spricht Hvistendahl sogar von 160 Millionen fehlenden Frauen, das übersteigt die gesamte weibliche Bevölkerung der USA.

Erfahrungsgemäß bekommen die rarer gewordenen Frauen leider nicht unbedingt eine höhere Wertschätzung, sondern müssen besonders auf der Hut sein - wie einst im Wilden Westen der USA. Die quantitative Entwicklung ist keinerlei Entschuldigung, aber für viele eine Erklärung dafür, dass in manchen Regionen, insbesondere in an Frauen armen Teilen Indiens, die Gewalt gegenüber dem weiblichen Geschlecht zunimmt und dass sich daher immer weniger Touristinnen in solche Gebiete wagen, wo sie Vergewaltigungen und Misshandlungen befürchten müssen.

In der Regel sieht man in diesen Regionen Söhne als die bessere Altersversorgung an, da ja die Töchter in eine andere Familie einheiraten, und ist daher eher geneigt, Buben als Mädchen aufzuziehen. "Aber mit dem modernen sozialen Wandel und der Urbanisierung ändern sich auch diese traditionellen Normen", meint Lutz und verweist auf Korea: "Korea war in den 1980er Jahren das erste Land, das durch geschlechtsspezifische Abtreibungen das Verhältnis bei der Geburt stark verändert hat - ähnlich wie heute in China. Aber durch die Modernisierung der Werte und insbesondere die stark steigende Bildung junger Paare ist diese Episode in Korea vorbei. Neuere Umfragen in China zeigen auch, dass in den städtischen Bevölkerungen die Präferenz umschlägt: Junge Paare wünschen sich nur ein Kind, und es soll am liebsten ein Mädchen sein, da sich Töchter bekanntlich mehr um ihre alternden Eltern kümmern."

"Ein großer Skandal"

Aber selbst wenn sich die Geschlechterrelation in asiatischen Ländern wieder langsam einpendelt, wie es bisher nur in Südkorea wirklich gelungen ist, befürchtet nicht nur Hvistendahl bis dahin einen Engpass auf dem Heiratsmarkt, Zwangsverheiratungen und grenzüberschreitenden Frauenhandel. Menschenrechtsorganisationen stellen zum Beispiel fest, dass China zwar Flüchtlinge aus Nordkorea in der Regel gnadenlos in die schlimmste Diktatur der Welt zurückschickt, aber wegen des Frauenmangels Frauen als Zwangsprostituierte oder gegen ihren Willen Verheiratete in China leben lässt.

Männer aus reicheren asiatischen Ländern wie Südkorea, Japan oder Taiwan holen sich - auch weil die ihnen oft bildungsmäßig überlegenen Frauen in ihrem eigenen Land dazu tendieren, lieber ledig zu bleiben als die traditionelle Ehefrauenrolle zu übernehmen - zunehmend ihre Bräute aus ärmeren Ländern, in denen dann noch weniger heiratsfähige Frauen zurückbleiben.

Während manche Beobachter in Staaten mit starker männlicher Bevölkerungsmehrheit auch eine Bedrohung für den Weltfrieden sehen, sieht Wolfgang Lutz das Problem eher als vorübergehend und aus einem anderen Grund als verstörend an: "Es wird viel über die möglichen Auswirkungen dieser Fragen auf die nationale und mitunter sogar auf die globale Sicherheit spekuliert. Aber ich halte das Phänomen der verzerrten Geschlechterproportionen weder für neu noch für längerfristig, da sich die Dinge meist nach einiger Zeit normalisieren und auch die möglichen Auswirkungen eher nur sozial-politisch relevant sind und im regionalen Kontext bleiben. Ich glaube, dass der wahre Grund, warum sich viele Menschen für diese Frage interessieren, nicht darin liegt, dass große konkrete Gefahren erwartet werden, sondern dass geschlechtsspezifische Abtreibung aus ethischer Sicht einfach ein großer Skandal ist, der mit unseren Werten nicht vereinbar ist."

Buchtipp:
Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen.
Von Mara Hvistendahl.
Übersetzt von Kurt Neff.
Deutscher Taschenbuch Verlag, 424 Seiten, 25,60 Euro