Muslimbrüder haben Chancen auf Wahlsieg, langfristig droht Spaltung.
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"Wiener Zeitung": Einige Beobachter blicken zurzeit besorgt auf die Muslimbrüder. Zu Recht?Nabil Abdel Fattah: In der Geschichte der Muslimbrüder sind unterschiedliche Konzepte entstanden. Seit 1995 haben einige Muslimbrüder neue Ideen entwickelt, die zu einem Bruch mit manchen ihrer bisherigen Konzepte und damit zu Spannungen zwischen den Generationen geführt haben.
Wo steht die jetzige Führung?
Im Führungsbüro sitzt nur die alte konservative Generation. Sie fordert blinden Gehorsam innerhalb der Organisation. Ihr Konzept kennt keine offene Gesellschaft.
Wo sind die moderaten Stimmen?
Abdelmoneim Abu El-Futuh war 35 Jahre lang ein geachtetes Mitglied der Muslimbrüder. Nun haben ihn die Muslimbrüder wegen seiner Entscheidung, bei der Präsidentschaftswahl zu kandidieren, ausgeschlossen. Er ist moderat. Es gibt Aufbrüche innerhalb der Muslimbrüder hin zu demokratischen Strukturen in ihrer Organisation. Ihre junge Generation ist anders.
Wie wird sich Ägyptens Übergang langfristig auf den Zusammenhalt der Muslimbrüder auswirken?
Der demokratische Prozess wird weitere Spannungen innerhalb der Muslimbrüder verursachen. Darüber hinaus werden die Muslimbrüder in einen Wettbewerb mit salafistischen Bewegungen eintreten, mit denen die Konflikte jüngst zugenommen haben.
Bis vor kurzem hatten die Muslimbrüder noch gar keine Partei.
Ihre neu gegründete "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit" ist für das leitende Büro der Muslimbrüder nichts anderes als ein weiteres Werkzeug. Ihr anderes Werkzeug ist der religiöse und soziale Apparat, der sich um arme Bevölkerungsschichten kümmert.
Am Beginn der Proteste spielten die Muslimbrüder kaum eine Rolle.
Zunächst weigerten sie sich, an der Revolution teilzunehmen, weil sie bereits Teil des Regimes waren. Das Regime hat die Muslimbrüder bis zu einem gewissen Grad als Akteur im politischen Leben gebilligt und gleichzeitig gegenüber den USA als "katastrophale Alternative" verteufelt. Wegen des allgemeinen Unbehagens vor dem Islam stieß diese Strategie im Westen auf Akzeptanz.
Wie stehen die Chancen der Muslimbrüder bei der nächsten Wahl?
Die Muslimbrüder sind gut organisiert und finanziert. Sie sind erfahren mit Wahlkampagnen und im Umgang mit dem Polizeiapparat. In ländlichen wie städtischen Gegenden haben sie bereits Kampagnen organisiert. Sie werden von dieser kurzen Übergangsphase zunächst profitieren. Manche schätzen, dass sie auf 25 bis 40 Prozent kommen werden, andere trauen ihnen 55 Prozent oder mehr zu. Die Meisten rechnen, dass sie eine dominierende Kraft Ägyptens sein werden. Bei Kopten, säkularen Ägyptern und Teilen der Mittelschicht erzeugt das Angst. Daher versuchen sich die Muslimbrüder als moderat zu präsentieren, doch sie trennen nach wie vor nicht ihre politische Partei von ihrem Leitungsbüro.
Die jungen Initiatoren der Revolte haben keine Chance?
Die kommenden Wahlen sind die ersten nach 60 Jahren Diktatur und autoritärer Kultur in Ägypten. Abseits der Muslimbrüder gibt es zurzeit kein klares politisches Konzept für Ägyptens Zukunft. Darüber hinaus fließen Petrodollars vom Golf zu einigen NGOs in Ägypten. Die junge, liberale, demokratische Generation hat zwar hohe Organisationsfähigkeiten über Internet, Handys oder iPad, aber mit Wahlkämpfen ist sie nicht vertraut. Sie hat keine Organisation, keine Erfahrung und auch kein Geld.
Sie wird wirkungslos bleiben?
Wenn die Entscheidungen des Parlaments dem Geist der Revolution widersprechen, werden die Menschen auf die Straße zurückkehren. Sie wollen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Das einzige Werkzeug dieser Generation ist die Macht eines neu erwachten Bewusstseins. Das ist ein starkes Werkzeug.
Nabil Abdel Fattah
Der studierte Jurist (Jahrgang 1952) ist Assistent des Direktors des Al-Ahram Zentrums für politische und strategische Studien in Kairo.