"Vertical Farming" könnte die Zukunft der Landwirtschaft bedeuten.
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Suwon/Wien. Mit seinem weißen Schutzanzug erinnert Choi Kyu-hong an einen Astronauten aus dem Film "2001". Die Science-Fiction-Assoziation ist auch auf dem zweiten Blick zutreffend, schließlich zeigt der Südkoreaner mit seiner "Plant Factory" der staatlichen Rural Development Administration, wie die Zukunft der Landwirtschaft aussehen könnte. In Suwon baut Choi Gemüse an - in einem vierstöckigen Gebäude mitten in der Stadt, umgeben von einer Million Einwohnern.
Bevor der Forscher seine Salatzucht betritt, muss er eine Luftdusche passieren, damit ja keine Bakterien mit den Pflanzen in Berührung kommen. Auf seinem Smartphone checkt er dutzende Parameter - von Luftfeuchtigkeit über Raumtemperatur bis zur Windstärke überlässt der Biologe nichts dem Zufall. Die Pflanzen stapeln sich auf 446 Quadratmetern in mehreren Reihen, alle werden von violetten LED-Leuchten bestrahlt. Diese sind besonders effizient, da sie nur eine bestimmte Lichtfrequenz aussenden. "Wir experimentieren gerade, die richtige Wellenlänge für die jeweiligen Salatpflanzen zu finden", berichtet Choi. Die idealen Lichtbedingungen für das bestmögliche Gedeihen der Pflanzen sind essenziell, schließlich kommen sie hier in der "Plant Factory" weitgehend ohne Sonnenlicht aus.
Im Gegensatz zu herkömmlichen Gewächshäusern kann Choi bei gleicher Fläche einen vielfachen Ertrag produzieren, dabei erntet er zu 100 Prozent keimfreie Salatpflanzen und spart durch sein Recyclingsystem fast 90 Prozent des herkömmlichen Wasserverbrauchs. An den Dächern befinden sich Solaranlagen, die bereits 15 Prozent des Energiebedarfs der "Plant Factory" decken. Im Winter wird zusätzlich die Wärme der konstant 15 Grad warmen Erde als Energiequelle benutzt. Sobald sich die Techniken verbessern, so ist sich der südkoreanische Wissenschafter sicher, werde man fast alle Stromkosten durch erneuerbare Energien decken können.
Vertical Farming nennt sich der Ackerbau im Hochhaus. Er ist laut dem emeritierten Columbia Professor Dickson Despommier nicht weniger als "die nächste landwirtschaftliche Revolution". Despommier ist so etwas wie der Vertical-Farming-Guru. Bereits 1999 überlegte er in einem Seminar mit seinen Studenten, wie man die leer stehenden Hochhäuser, die es in fast jeder amerikanischen Großstadt gibt, besser nutzen könnte.
Rinderfarm und Reiszucht
"Wieso bauen wir die Lebensmittel nicht innerhalb der Gebäude an?", fragte sich Despommier. Mit seinen Studenten errechnete er, dass eine 30-stöckige Vertical Farm etwa 50.000 Menschen ernähren könne. Während Choi seine Plant Factory vorerst auf Salatzucht beschränkt, schweben Despommier 30-stöckige Wolkenkratzer mit Tomaten-, Reis und Karottenzucht vor; ja sogar eine Rinderfarm im Erdgeschoß sollen sie beheimaten können. Ganze Großstädte sollen sich so autark ernähren können.
Im Grunde ist Vertical Farming keine neue Idee, basiert doch der Etagenbau der Indios im Regenwald auf einem ähnlichen Prinzip. Der Erste, der die Idee des Indoor-Gewächshauses industriell verwertete, war gar ein Österreicher: Ingenieur und Erfinder Othmar Ruthner konzipierte bereits Ende der 1960er Jahre - lange, bevor es ein "Grün"-Bewusstsein in der Bevölkerung gab - sogenannte Gewächstürme, in denen Tomatenpflanzen mittels eines Paternostersystems rotieren und so gleichmäßig mit Sonnenlicht versorgt werden. Während der Wiener Internationalen Gartenschau 1974 war ein solches Mustergewächshaus für längere Zeit in Oberlaa zu besichtigen.
Doch es blieb nicht nur bei der Blaupause: Wenige Jahre später ließ Ruthner mittels der ehemaligen Voest Industrieanlagebau in Norwegen eine Tomatenfabrik errichten. In den 1980er Jahren zeigte sogar die Nasa Interesse an seinen Konzepten - mit Hintergedanken an längere Mondexpeditionen, auf denen sich die Astronauten autark versorgen sollten. Doch Ruthners Ideen gerieten nach seinem Tod in Vergessenheit, die Gesellschaft war offenbar noch nicht reif für seine visionären Ideen.
"Viele Länder könnten Vertical Farming gut gebrauchen - die meisten Staaten des Mittleren Ostens haben Interesse angemeldet", meint Despommier. 2050 werden laut Schätzungen der UNO zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Um sie zu ernähren, bräuchte man eine zusätzliche Fläche von der Hälfte Südamerikas. Vertical Farming könnte mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Nahrungssicherheit gewährleisten, ganzjährig und unabhängig von Naturkatastrophen und Wetterbedingungen. Zudem fallen die Transportkosten weg: Bei Vertical Farming wohnen Produzenten und Konsumenten Haus an Haus. Das spart Unmengen an CO2 Emissionen.
Vorerst nur Lifestyle-Produkt
"Es wird noch mindestens fünf bis zehn Jahre dauern, bis wir marktfähig sind", meint Doktor Choi in Suwon. Noch seien die Produktionskosten zu hoch. Südkorea hat jedoch ein genuines Interesse an Vertical Farming: Aufgrund eines Mangels an landwirtschaftlichen Flächen - das Land am Han-Fluss besteht zu 70 Prozent aus Bergen - muss ein Großteil der Nahrungsmittel aus dem Ausland importiert werden. Laut einer OECD-Studie von 2005 rangiert Südkorea in Sachen Nahrungsmittelsicherheit gar auf dem fünftletzten Platz. "Bei uns erleben wir die direkten Auswirkungen des Klimawandels - etwa durch Naturkatastrophen wie Taifune oder steigende Temperaturen im Sommer", weiß Choi: "Im Sommer können wir generell nicht gut Gemüse anbauen, weil die Luftfeuchtigkeit zu hoch ist."
Choi und Despommier wissen, dass mit Vertical Farming in naher Zukunft wohl nicht die Nahrungsmittelknappheit des Planeten gelöst werden wird. Vielmehr werden sich die Nahrungsmittel aus dem Hochhaus erst einmal als Lifestyle-Produkt etablieren müssen. Als Early Adopter für den Salat aus Chois "Plant Factory" könnte die Oberschicht Seouls fungieren - die für keimfreies, organisches Gemüse auch bereit ist, etwas in die Tasche zu greifen.