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Sanfte Revolution in Grün

Von Alexander Dworzak aus Baden-Württemberg

Politik

Spurensuche bei einem europäischen Sonderfall: Warum die Grünen im konservativen Kernland Baden-Württemberg stärkste Partei werden könnten.


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Stuttgart/Karlsruhe/Ettlingen. Wer am Stuttgarter Hauptbahnhof aussteigt, landet in einer Asphaltwüste. Der Verkehr muss fließen, also bugsiert die Klett-Passage die Passanten vor der siebenspurigen Autostraße in den Untergrund. Auf der anderen Straßenseite wieder hochgespült, befinden sich in der Touristeninformation eigene Bereiche für Daimler und Porsche, zwei der Vorzeigebetriebe der Stadt. Zu kaufen gibt es Automodelle und Badewannenspielzeug im Autodesign. Der Plan einer autogerechten Stadt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent verfolgt; insbesondere, weil mehr als die Hälfte des Stuttgarter Gebäudebestandes zerstört worden war. Auf historische Rekonstruktionen verzichtete man weitgehend. Ausgerechnet ein Grüner amtiert seit 2012 als Oberbürgermeister der Autostadt Stuttgart. Fritz Kuhn setzte sich damals in der Stichwahl durch.

Nicht nur die Landeshauptstadt Stuttgart wählt Grün, sondern auch das Land Baden-Württemberg. Seit 2011 regiert Winfried Kretschmann gemeinsam mit den Sozialdemokraten. Bei der nunmehrigen Landtagswahl am Sonntag schickt sich der erste und bisher einzige grüne Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes an, den Konservativen auch die Stimmmehrheit zu entreißen: Eine am Donnerstag veröffentlichte ZDF-Umfrage sieht die Grünen bei 32 Prozent, die CDU kommt demnach auf lediglich 29 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die Unionspartei im Südwesten noch 45,7 Prozent.

Als verkappter Schwarzer wird Winfried Kretschmann gerne porträtiert, weil er die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel bei jeder Gelegenheit verteidigt. Dabei ist er ein grünes Urgestein: Er gründete die baden-württembergische Landespartei mit, kandidierte bereits 1980 für den Landtag und brachte es drei Jahre später erstmals zum Fraktionsvorsitzenden. Wie viele andere führende Grüne hat auch der mittlerweile 67-Jährige mit dem markanten Bürstenhaarschnitt eine Linksaußen-Vergangenheit, er war Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschlands. "Wie kommt es, dass man als gebildeter Mensch auf einmal in so einer Sekte landet?", fragte sich Kretschmann selbst in einem Interview mit der "Zeit" 2015. Der Ministerpräsident steht offen zu seinen früheren Fehlern - und bricht auch öffentlichkeitswirksam mit ihnen. Die Bürger nehmen ihm den Wandel ab - hin zum Mitglied beim Schützenverein und im Zentralkomitee der Katholiken.

Kein Kampf Realos-Fundis

Inhaltlich sind Kretschmann und die Grünen Baden-Württembergs Teil eines speziellen politischen Biotops. "Den für die Partei so typischen Konflikt zwischen Realos und Fundis hat es hier nie gegeben", sagt Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaft und Wahlforscher an der Universität Hohenheim in Stuttgart: "Die Grünen sind hier eine ziemlich bürgerliche Partei mit Betonung auf Ökologie, sie wollen als verlässlich und berechenbar gelten." "Ökologisch, ökonomisch und sozial. Seit 1979", steht dementsprechend in Riesenlettern auf der Webseite der Grünen Baden-Württembergs. Zugute komme der Partei auch, dass die Sozialdemokratie in Baden-Württemberg nie Fuß gefasst hat, merkt Wohnsoziologe Gerd Kuhn von der Universität Stuttgart an - auch weil Firmen wie Daimler und Bosch Sozialpolitik betrieben haben. Ein Fließbandarbeiter dort ist auch ein potenzieller Grün-Wähler.

Seit Jahrzehnten erreicht die Partei bei Landtagswahlen bessere Ergebnisse als bei Bundeswahlen. Dennoch waren vor der Schicksalswahl 2011 nie mehr als 12,1 Prozent (1996) drinnen. Es brauchte externe Faktoren, um die Grünen an die Macht zu spülen, gleich drei Ereignisse kamen ihnen dann zugute: Erst die monatelangen Proteste um das Bahnvorhaben Stuttgart 21, das von der damals regierenden CDU vorangetrieben wurde. Zwei Wochen vor der Landtagswahl 2011 kam es zur Katastrophe von Fukushima, sie traf die Kernkraftpartei CDU ins Mark. Die baden-württembergischen Reaktoren Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 gingen noch 2011 vom Netz, zwei weitere laufen bis längstens 2019 beziehungsweise 2022. Letzter Baustein des Erfolgs der Grünen war die Arroganz des damaligen CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus. "Er hat die konsensuale politische Kultur auf den Kopf gestellt und den Knüppel ausgepackt", echauffiert sich Rezzo Schlauch noch heute.

39 Prozent erzielte Schlauch für die Grünen bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl 1996. Das zeigt, wie lange schon die Partei im Ländle verankert sind. "Bereits in den 80ern haben wir hier mit Daimler in einer Arbeitsgruppe überlegt, wie man den Verkehr in Stuttgart anders organisieren könnte", blickt er zurück. Später war Schlauch Vorsitzender der Bundestagsfraktion und während der rot-grünen Bundesregierung Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, er kennt also den politischen Betrieb auf Bundesebene nur zu gut. "Die Grünen in Baden-Württemberg sind wegen ihrer kommunalen Verankerung so erfolgreich. Wir sind von Anfang an aufs Land gegangen - die Städte bekommen wir von alleine."

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Schlingern und federn

Egal ob Stadt oder Land, bei der CDU sind Verunsicherung und Frust dieser Tage groß: "Entweder wir geben uns den Umfragen hin, oder wir denken uns: Jetzt erst recht", versucht Spitzenkandidat Guido Wolf beim Landesparteitag die Abgeordneten und Sympathisanten wachzurütteln. In Ettlingen klatschen sie dazu brav, Begeisterung sieht aber anders aus. Ausgerechnet bei dem alles beherrschenden Thema Flüchtlingspolitik - Bildungspolitik und Straßenbau folgen weit abgeschlagen - hat sich Wolf verrannt. Nach Nordrhein-Westfalen und Bayern nimmt Baden-Württemberg die drittmeisten Flüchtlinge in Deutschland auf, 101.000 Asylanträge wurden 2015 gestellt - in Österreich waren es rund 90.000.

Statt Kurs zu halten, lavierte der Spitzenkandidat, dann verfiel er in Aktionismus. Ende Februar befürwortete Wolf mit der rheinland-pfälzischen CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner tagesaktuelle Flüchtlingskontingente - vorbei an der Landespartei und deren Chef Thomas Strobl. Anfang März kündigte er ein Sofortprogramm für die ersten 100 Tage als Ministerpräsident an - bloß kannten nicht einmal die Landtagskandidaten dessen Inhalte. Bei den Nationalkonservativen in der CDU wildert derzeit die Alternative für Deutschland (AfD), die sich für Grenzkontrollen starkmacht; elf Prozent werden ihr prognostiziert. "Die AfD hat auch gute Ideen, etwa das traditionelle Familienbild, und hält unsere Kultur hoch", sagt Lisa Frey. Dabei ist die 19-Jährige seit 2015 CDU-Mitglied. Der Großteil der Misere in Baden-Württemberg ginge auf Merkels Konto. Ein anderer Parteivorsitzender wäre gut. Wer das sein könnte? Lisa Frey schweigt.

Der Grüne Kretschmann federt derweil durch den Wahlkampf. Er formuliert keine konkreten Ziele, sondern Visionen: Dem "Landesvater" - so steht es sogar auf seinen Wahlplakaten - schwebt eine "Balance zwischen Industriestandort und Ökologie" vor. In Bildungsfragen fordert er eine "ausdifferenzierte Erziehungspartnerschaft": "Ich werde den Teufel tun, um das Gymnasium zu schwächen", schmettert der ehemalige Gymnasiallehrer jenen entgegen, die im Ausbau der Gemeinschaftsschulen Gleichmacherei sehen. Und Kretschmann möchte europapolitisch den "Kitt in der Gesellschaft" stärken.

Sogar Joschka Fischer, der mittlerweile zurückgezogen in Berlin lebt, lässt sich für Kretschmann einspannen. Der erste grüne Außenminister tritt mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten auf. Kretschmann arbeitete für Fischer in den 1980ern im hessischen Umweltministerium, das Verhältnis der beiden war nicht immer spannungsfrei. In Karlsruhe, das kurz vor der deutsch-französischen Grenze liegt, erinnern sie an die einstige "Erbfeindschaft" beider Länder und warnen vor nationalen Alleingängen heutiger Tage. Das auch aus pragmatischen Gründen: "Die Hälfte unserer Exporte geht in die EU, wir haben 100.000 Grenzgänger in die Schweiz und nach Frankreich." Grenzschließungen wären für die Betriebe verheerend.

Sorge hatten die Unternehmen 2011, Kretschmann würde im Verbund mit seinem Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) den Standort zugrunde richten. Nun rennen sie dem Grünen die Türe ein: Wolfgang Grupp, Chef des Textil- und Tankstellenunternehmens Trigema, verkündet öffentlich, als Bürgerlicher nun erstmals Grün zu wählen. Der Investor Jochen Wermuth spendet den Grünen 300.000 Euro, obwohl er Kretschmann davor nur aus YouTube-Videos kannte. Und selbst der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, attestiert, die Grünen Baden-Württembergs seien "wirtschaftsnah".

Tradition und Innovation

Denn auch in Wirtschaftsfragen hat sich Kretschmann den Ruf erarbeitet, zuverlässig zu sein. Zudem verbindet er Tradition mit Innovation. Insbesondere die mittelständischen Unternehmer sind davon angetan: Die Tüftler identifizieren sich mit dem knorrigen, sperrigen Politiker. Kretschmanns großes Zukunftsthema ist "Industrie 4.0": "Baden-Württemberg ist nicht ein Silicon Valley, sondern 1000. Unsere Betriebe müssen an die IT-Welt andocken." Als erster deutscher Ministerpräsident hat er eine eigene Regierungserklärung dazu abgegeben. Auch fordern die Grünen, anderswo undenkbar, den Ausbau der Autobahnen rund um Stuttgart.

Diese gnadenlos pragmatische Ausrichtung lässt die Grünen jedoch konturlos erscheinen. Das gilt auch für Kernthemen: Werden in Wien 39 Prozent der Wege mit den Öffis zurückgelegt, sind es in Stuttgart lediglich 24 Prozent. Umgekehrt ist das Verhältnis beim Autoverkehr, 45 Prozent in Stuttgart stehen 28 Prozent in Wien gegenüber. Seit 20 Jahren wird über den Rückbau von Straßen diskutiert, radikale Brüche sind in der Kommunalpolitik aber verpönt. Bedingt durch die Lage im Talkessel wurde in den vergangenen Wochen mehrfach Feinstaubalarm in Baden-Württembergs Hauptstadt ausgerufen. Zu einem Fahrverbot konnte sich Oberbürgermeister Kuhn aber nicht durchringen, kritisiert Forscher Gerd Kuhn. Auch vermisst der Wohnsoziologe Initiativen, um dem Mangel an leistbaren Wohnungen beizukommen. Denn auch die 610.000-Einwohner-Stadt wächst beständig: "Doch kein einziger sozialer Wohnungsbau wurde unter dem grünen Oberbürgermeister im Jahr 2014 in Stuttgart errichtet."

Rar ist auch grüne Bobo-Kultur in Stuttgart. Im Heusteigviertel, einem Hotspot des linksliberalen Bürgertums, findet man zwischen Jugendstilfassaden zwar den obligatorischen Vollkornbäcker oder das vegane Bistro. Statt jungen Kellnerinen mit Dutt serviert dort aber eine platinblonde Mittvierzigerin mit tätowierten Oberarmen in einem Shirt eines Heavy-Metal-Festivals. Schicke Pop-up-Cafés, in denen der Milchschaum in Blätter- oder Herzform gezaubert wird, fehlen. Auch im Heusteigviertel regieren gewachsene Strukturen, alles ist weniger hip und bemüht leger als in Teilen Berlins oder Wiens, stattdessen unaufgeregt.

Die bürgerlich-liberale Stimmung und Grundeinstellung hat in Deutschlands Südwesten Tradition. "Sie geht bis auf die Bauernkriege und die Revolution 1848 zurück. Eine Großleistung der Region Stuttgart ist, dass Fremde selbstverständlich aufgenommen werden", sagt Gerd Kuhn. Wahlforscher Brettschneider spricht gar von einem "Schutzwall gegen Fremdenfeindlichkeit" in Baden-Württemberg: Es gebe auch unter CDU-Mitgliedern sehr viele Ehrenamtliche, sie helfen Flüchtlingen in Krankenhäusern oder bieten Nachhilfe für Kinder an.

Jene Bürger sind besonders enttäuscht von den Kapriolen des CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf. Obwohl die Konservativen 67.000 Mitglieder in Baden-Württemberg zählen, fast zehn Mal so viele wie die Grünen, scheint es nicht so, als ob viele für Wolf rennen. Desaströs ist die Stimmung unter den CDU-Anhängern: Nur 37 Prozent würden sich für Wolf als Ministerpräsidenten entscheiden, könnte man das Amt direkt wählen. Für Kretschmann würden hingegen 45 Prozent der Konservativen stimmen, ergab der "ARD-Deutschlandtrend". Und zwei Drittel der wahlberechtigten Baden-Württemberger sind mit der Arbeit von Grün-Rot sehr zufrieden oder zufrieden. Wechselstimmung sieht also anders aus.

Verliert die CDU, die bis 2011 über 58 Jahre das Bundesland regierte, nun auch die Mehrheit der Stimmen an die Grünen, erwartet Kommunikationswissenschafter Brettschneider "tiefgreifende Verwerfungen zwischen den Modernisierern und Traditionalisten in der Partei, die sich die Waage halten". Er sieht zwei Schuld-Szenarien: "Entweder die Verantwortung wird auf Merkel abgewälzt. Dann müsste es zu einem Kurswechsel in Berlin kommen. Oder man gibt Spitzenkandidat Wolf und der mangelnden Geschlossenheit die Schuld."

Falls der grüne Merkel-Fan Kretschmann gewinnt, könnten die Anhänger der Kanzlerin behaupten, ihr Flüchtlingskurs wurde bestätigt - bloß nicht in Form eines CDU-Kandidaten. Merkel ließ dieser Tage verkünden, sie hätte kein Problem mit einer grünen Landesregierung und einem schwarzen Juniorpartner. Das wäre einigen Konservativen im Ländle dann doch zu viel der Demütigung.