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Sanktionen und Solidarität

Von Reinhard Göweil

Politik

Der EVP-Kandidat für die Europawahl, Jean-Claude Juncker, plädiert wegen der Ukraine-Krise für raschen Euro-Beitritt Polens.


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Wien. "Entweder wir führen Krieg oder wir verschärfen die Sanktionen gegen Russland, wenn die Lage in der Ostukraine weiter eskaliert. Ich bin für Sanktionen, denn Soldatenfriedhöfe hat Europa genug. Aber gar nichts zu tun, wäre ein Verrat an den europäischen Werten", sagte der christdemokratische Spitzenkandidat zur Europawahl, Jean-Claude Juncker, bei einem Österreich-Besuch. Der ehemalige Regierungschef Luxemburgs und Eurogruppen-Vorsitzende lässt aber keinen Zweifel daran, dass Wirtschaftssanktionen gegen Russland in Moskau Gegenmaßnahmen hervorrufen würden und auch Auswirkungen auf die EU haben würde.

Inner-europäischer Ausgleich der Sanktionskosten

"In der EU wären Länder unterschiedlich von russischen Sanktionen betroffen. Es ist also notwendig, innereuropäische Solidarität zu üben, der Preis solcher Sanktionen muss für alle gleich sein." Länder wie Finnland und das Baltikum wären wegen der starken Handelsverflechtung mit Russland stärker betroffen. Auch Österreich wäre als einer größten Auslands-Investoren in Russland auf Seiten der Verlierer. Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien hätten dagegen weniger zu leiden, wenn die Grenzen dichtgemacht werden würden. Wie diese Ausgleichszahlungen aussehen könnten, wollte Juncker nicht sagen. Ein vorhandenes Instrument wären beispielsweise EU-Stützungszahlungen für die Zahlungsbilanz. "Völkerrecht geht über Wirtschaftsinteressen", sagte auch Othmar Karas, der als ÖVP-Listenerster in die Europawahl geht und Juncker bei seinem "Österreich-Tag" begleitete.

Juncker auf die Frage, ob Polen als Nachbarland der Ukraine den Beitritt zum Euro beschleunigen solle: "Polen hat eine beeindruckende Leistung hingelegt und sollte dort dabei sein, wo viel Europa stattfindet. Ich wünsche mir daher den Euro-Beitritt des Landes so früh wie möglich. Aber die Entscheidung dafür liegt beim polnischen Volk."

Sowohl Juncker als auch Karas befürworten mittlerweile eine europäische Energie-Union. "Wir brauchen einen Energie-Binnenmarkt. Die Netze müssen vereinheitlicht werden", sagte Karas. Und Juncker ist auch dafür, dass es eine EU-weite Einkaufsgesellschaft für Erdgas gibt. "Russland muss das Kundenvolumen Europas merken. Derzeit macht ja jedes Land seine eigenen Verträge." Eine so starke Einkaufsgesellschaft hätte natürlich bei Gazprom andere Möglichkeiten und könnte Preiserhöhungen leichter wegverhandeln. Auch wenn sich beide Kandidaten für den Ausbau erneuerbarer Energien aussprechen, so bedeutet ein Energie-Binnenmarkt doch, dass Länder wie Österreich Atomstrom gleich zu behandeln haben wie Strom aus Wasserkraft. Othmar Karas: "Es steht ja am 25. Mai das Europa-Parlament zur Wahl. Wir müssen die Bürger an dieser Debatte beteiligen und das direkte Gespräch mit den Menschen suchen. Auf keinen Fall sollten wir warten, bis die Regierungschefs der EU-Länder so weit sind."

Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen Parteien

Bei der Europawahl am 25. Mai liefern sich derzeit die Sozialdemokraten und die Christdemokraten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Beide erreichen in den Umfragen derzeit 205 bis 210 Mandate der insgesamt 751 Sitze. Jean-Claude Juncker für die Konservativen und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz für die Sozialdemokraten treten als Spitzenkandidaten an. Das Europa-Parlament hat sich darauf verständigt, dass der Sieger nächster Präsident der EU-Kommission werden soll.

"Die Kommission ist die Regierung Europas. Ich unterstütze Juncker mit seinem Plan, die Arbeit der Kommission effizienter zu gestalten", sagte Karas. "Wir benötigen Kompetenz-Zusammenlegungen in die Hände von Vizepräsidenten der Kommission. Es sollen die 28 Kommissare keine Silos mehr bilden."

Was sich sehr technisch anhört, hat einen handfesten Hintergrund, der alle in Europa betreffen würde. Derzeit stellt jedes EU-Land einen Kommissar, mittlerweile gibt es also 28. Die hohe Zahl hat zu einem Kompetenz-Wirrwarr in Brüssel mit seltsamen Ergebnissen geführt. Als Beispiel seien die nicht-wiederbefüllbaren Olivenkännchen für die Gastronomie genannt. Der Plan wurde aber nach heftigen Protesten (auch im Parlament) ad acta gelegt. Nun soll es große Themenbereiche (etwa Energie, Industrie, Landwirtschaft, Digitalisierung, Außenpolitik) geben, die von Vizepräsidenten der Kommission geleitet werden, andere Kommissare arbeiten in Teilbereichen zu.

Wie Juncker die künftigen großen Themen definiert, wollte er am Mittwoch noch nicht sagen. "Das wird mit dem Parlament und den Kommissions-Kollegen zu besprechen sein."

Europa-Themen in nationalen Parlamenten verstärken

In einem sind sich die Kandidaten aller Parteien (mit Ausnahme mancher rechtsextremer Positionen, die wesentliche Bereiche der EU abschaffen möchten) einig: Das Europaparlament als gewählte Institution ist demokratiepolitisch legitimiert und wird eine stärkere Rolle spielen. Juncker spielt den Ball aber auch ins Feld der Nationalstaaten. "Auch die nationalen Parlamente müssen europäische Themen ausführlicher diskutieren. Nur so kann die Bürger an der Entwicklung teilnehmen."

Wie auch bei den Sozialdemokraten und den Liberalen ist auch bei europäischen Christdemokraten, die in der Europäischen Volkspartei (EVP) vereint sind, das Thema Industriepolitik angekommen. Juncker: "Die Stunde ist gekommen, die Ent-Industrialisierung Europas, die von Thatcher angestoßen worden war, zu stoppen. Wir müssen aufhören, naiv hinzuschauen. Europas Industrie leidet unter Auflagen, die es anderswo in der Welt nicht gibt. Es wäre nicht richtig, nachzuäffen, was die USA tun, aber wir dürfen die Industrie auch nicht überfordern." Vor allem in Ländern, deren Industrie-Anteil an der Gesamtwirtschaft stark schrumpft, wie etwa Frankreich und Spanien, hält sich hohe Arbeitslosigkeit hartnäckig. "Wir müssen daher zu den Kardinaltugenden einer ökosozialen Marktwirtschaft zurück kehren", sagte Juncker.

Bei seinem Besuch am Wiener Naschmarkt traf er auf halb Europa. Drei deutsche Touristinnen waren begeistert. "War das jetzt der Juncker? Ein kluger Mann." In der österreichischen Innenpolitik waren die Damen weniger sattelfest. "Der Spindelegger, ist das nicht ein Rechter?" Erst nach einem Hinweis, dass die ÖVP mit der deutschen CDU vergleichbar ist, zeigten sich die drei beruhigt. In der Zwischenzeit verteilte ein türkischstämmiger Standler Falafel an die ÖVP-Prominenz. Europa halt. Und Wien.

TV-Duell der EU-Spitzenkandidaten

Jean-Claude Juncker, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, und Martin Schulz, Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten, treten am Donnerstag um 20 Uhr in einem Live-TV-Duell gegeneinander an. Die 90-minütige Konfrontation der beiden Favoriten auf den Posten des künftigen EU-Kommissionspräsidenten wird von Ingrid Thurnher und Peter Frey moderiert und ist in ORF2 und ZDF ab 20.15 Uhr zu sehen.