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Brüssel · Knapp zwei Wochen vor dem entscheidenden EU-Reformgipfel in Berlin hat die Europäische Kommission das Handtuch geworfen. Den Sprengsatz legte der Bericht des "Weisenrates" zu den | immer zahlreicheren Affären, die in den letzten Wochen und Monaten ruchbar geworden waren. Mit dem ersten Rücktritt des Kollegiums in der Geschichte der europäischen Integration soll | Schadensbegrenzung betrieben werden.
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Das Ansehen der "europäischen Regierung" ist mittlerweile so stark angeschlagen, daß nur noch der Rückzug blieb. Dies umso mehr, als Kommissionspräsident Jacques Santer selber vor wenigen Tagen
angekündigt hatte, er werde die Konsequenzen aus den Untersuchungsergebnissen des "Weisenrates" ziehen.
Eine entscheidende Rolle für den Rücktritt der Kollektivs wenige Stunden nach Vorlage des Berichts in der Nacht auf Dienstag dürfte das Vorpreschen der sozialistischen Fraktionschefin im EU-
Parlament, Pauline Green, gespielt habe. Sie forderte in klaren Worten, daß die Kommission ihre politische Verantwortung für die offenkundigen Verwaltungsmängel wahrnehmen und gehen müsse. Sollten
Santer und seine Mannschaft im Amt bleiben, werde die SPE bei der kommenden Plenartagung im April einen zweiten Mißtrauensantrag einbringen. Der Kommission blieb damit nur noch die Flucht nach vorne.
Für die größte Fraktion im EU-Parlament, noch vor den Europa-Wahlen am 13. Juni einen Kraftakt hinzulegen, dürfte die Verlockung maßgeblich im Spiel gewesen sein. Die Sozialisten wollten nicht
hinnehmen, daß nur ihre "Parteigenossen" in der Kommissionsspitze an den Pranger gestellt werden. Santer hatte kürzlich den ungewöhnlichen Schritt gemacht, Cresson und dem spanischen Kommissar Manuel
Marin den Rücktritt nahezulegen. Er gab damit das geheiligte Prinzip der Kollegialität auf, das bisher die Kommissionsspitze regierte. Viele sahen darin ein Manöver des Luxemburgers, mit dem
"Bauernopfer" seine eigene "politische" Haut zu retten. Zur Entspannung trug diese Ankündigung jedenfalls nicht bei.
Trotz des Eklats zur Unzeit wird die EU nicht wie ein führerloses Schiff dahintreiben. Zunächst führt die Behörde die Geschäft weiter. Im Parlament wird spekuliert, daß eine neue Kommissionsspitze
oder zumindest der Präsident bereits beim EU-Sondergipfel am 24. und 25. März in Berlin von den EU-Staats- und Regierungschef ernannt wird. An sich war dies erst für den regulären Gipfel im Juni
geplant. Aber politisch wäre eine geschäfstführende Kommission in unveränderter Besetzung bis zum Ende ihrer Legislaturperiode kaum mehr tragbar. Bei den Neuernennungen dürften "unbescholtene"
Kommissare wie etwa Franz Fischler, der Montag Nacht als erster seinen Rücktritt erklärte, oder der unerschrokene Wettbewerbshüter Karel van Miert durchaus intakte Chancen haben, wiederzukommen.
Die schwere institutionelle Krise der EU lehrt zumindest eines: Das undemokratische Verfahren, Präsident und Mannschaft als Teil eines "Kuhhandels" zwischen den Mitgliedstaaten hinter verschlossenen
Türen und unter weitgehender Ausschaltung des Europäischen Parlaments zu ernennen, wird sich auf Dauer nicht mehr halten lassen.