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Sarrazins nächster Coup

Von Alexander von der Decken

Gastkommentare
Alexander von der Decken ist außenpolitischer Redakteur in Bremen.

Thilo Sarrazin könnte das Manuskript von "Europa braucht den Euro nicht" auf die Straße legen, die Leute würden es auf eigene Kosten kopieren.


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Werbung hat Thilo Sarrazin nicht nötig. Die machen andere für ihn - all jene, die das Buch spitzfingrig und empörungsgerötet durchblättern, wenn sie es denn überhaupt tun. Pünktlich zum Erscheinungstermin greift die Protestfraktion mit ihrer Verachtungsrhetorik zur Axt, um die Auseinandersetzung auf sehr deutsche Art zu betreiben. Worthülsen-Pingpong statt mit den Argumenten zu jonglieren. Streitkultur für das öffentliche Auge - die Bundestagswahl im kommenden Jahr wirft bereits ihren langen Schatten. Denken und Handeln der Parteien ist schon in den Parteiprogrammen erstarrt. Die Rituale halten Einzug.

Das alles ist zu wenig in einer Zeit, in der das ökonomische Gefüge global auseinanderbrechen kann. Da ist jeder Gedanke wertvoll, auch wenn er provokativ ist. Vielleicht gerade deshalb. Die Parteien hören nur noch auf den eigenen Herzschlag, während der Souverän, das Volk, ernsthaft zu erkranken droht. Schon bei Sarrazins dem millionenfach verkauftem Erstlingswerk "Deutschland schafft sich ab", wurde das Sterben des öffentlichen Diskurses sichtbar. Es hat sich zwischenzeitlich nichts geändert. Das ist der eigentliche Skandal.

Worum geht es? Sarrazin bringt zu Papier, was viele denken. Das ist kein Argument für das Buch, aber eben auch keines dagegen. Er jongliert mit der Provokation, indem er den Euro als das entlarvt, wofür er ihn hält: ein politisches Zuchtmittel, das Deutschland keinen ökonomischen Vorteil bringt. In lyrischer Überhöhung geißelt Sarrazin die Wirtschafts- und Währungsunion als ein Instrument, das lediglich dazu diene, Deutschland in Büßerstarre für die Schuld am Zweiten Weltkrieg zu halten. Er beklagt den Verlust der Eigenständigkeit der Europäischen Zentralbank und erklärt, dass Deutschland nicht für die fiskalpolitischen Bilanzierungskünste anderer europäischer Mitgliedsstaaten zur Verantwortung zu ziehen sei. Diese Thesen mögen das Denkungsraster der politischen Parteien sprengen, aber sie stehen nun einmal im Raum und werden bei aller Aufgeregtheit nicht als das erkannt, was sie sind: Provokation um der Provokation willen. Und die muss gestattet sein in einem demokratischen Gemeinwesen. Der Disput ist die Garantie für den Fortbestand eines jeden öffentlichen Gemeinwesens.

Womit wir bei der Person von Thilo Sarrazin angelangt sind. Der Mann ist die Provokation in Person. Das ist beabsichtigt. Denn natürlich will Sarrazin nicht nur den öffentlichen Diskurs befeuern, er will auch die Kassen klingeln hören. Und das scheint nach der "Präsentation" seines neuen Buches "Europa braucht den Euro nicht" gesichert.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung darüber wird es nicht geben, die Streitkultur hierzulande beschränkt sich auf die Streitaxt, die Handhabung des Floretts beherrscht die intellektuelle Klasse hierzulande nicht. Das hat seine Ursache in der Abgrenzung von Philosophie und Politik - vielleicht auch in der Unfähigkeit, das Licht von Visionen auf Parteiprogramme scheinen zu lassen. Souveränität und Mut brauchen die Provokation nicht zu fürchten, aber beides muss vorhanden sein.