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In Schweden können Kinder kostenlos Privatschulen besuchen, der Staat zahlt. Investoren setzen auf eine Mitte-rechts-Regierung, die keine Änderung des Systems vornimmt.
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Für Anleger standen die Sieger der Wahl in Schweden fest, noch bevor Regierungschefin Magdalena Andersson am Mittwochabend ihren Rücktritt verkündete. Ihre Sozialdemokraten samt Verbündeten im Mitte-links-Spektrum mussten sich knapp dem Mitte-rechts-Bündnis mit Unterstützung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten geschlagen geben. Investoren sind nach der Wahl am Sonntag davon ausgegangen, dass Mitte-rechts den geringen Vorsprung halten wird. Aktien von Unternehmen aus dem Bildungssektor haben seitdem zugelegt. Heraus sticht der Schulbetreiber Academedia, dessen Kurs an der Stockholmer Börse ist seit Montag um 15 Prozent gestiegen.
Denn mit einer Regierung rechts der Mitte wird der Status quo nicht angetastet, die Gewinne privater Bildungsunternehmen sind nicht gefährdet. Möglich macht das der sogenannte Bildungsscheck, den Eltern vom Staat erhalten: Dieser garantiert, dass für die verpflichtende Schulzeit von sieben bis 16 Jahren keine Gebühren anfallen. Damit können Eltern unabhängig vom Wohnsitz wählen, wo die Kinder zur Schule gehen. Sie haben zudem die Wahl, ob die Kinder kostenlos eine öffentliche oder private Schule besuchen.
Schulanbieter im Besitz eines Risikokapitalfonds
Das System wurde Anfang der 1990er von einer bürgerlichen Regierung eingeführt. Hintergrund war, mehr Vielfalt zu schaffen. Durch größere Wahlmöglichkeiten sollten auch die Gehälter der Lehrer steigen, daher plädierten die beiden wichtigsten Gewerkschaften ebenfalls für das Vorhaben. Mittlerweile ist die Privatisierung im Bildungssektor weit fortgeschritten. In die sogenannten "freien Schulen" gehen 16 Prozent der bis zu 16-jährigen Grundschüler, bei der darauf folgenden Mittelschule sind es sogar 30 Prozent.
Es ist ein lohnendes Geschäftsmodell, wie ein Blick auf den derzeitigen Börsenliebling Academedia zeigt. Das größte Bildungsunternehmen Nordeuropas, das auch nach Norwegen und Deutschland expandiert hat, betreibt 680 Vor-, Grund- und Mittelschulen sowie Einrichtungen zur Erwachsenenbildung. Es betreut fast 190.000 Personen und beschäftigt 18.000 Menschen. Der Umsatz stieg seit 2012 von 5,1 Milliarden Kronen (480 Millionen Euro) auf 13,3 Milliarden Kronen (1,25 Milliarden Euro) 2020/21. Der operative Gewinn verdreifachte sich in diesem Zeitraum annähernd auf 1,17 Milliarden Kronen (110 Millionen Euro). Die schwedische Holding Mellby Gard hält mehr als 20 Prozent an Academedia, zweitgrößter Aktionär ist Skandinaviens größter Fondsanbieter Nordea, an dritter Stelle liegt die US-Investmentgesellschaft Capital Group.
Bei Academedias Konkurrenten IES übernahm gar ein Risikokapitalfonds vergangenes Jahr die Aktienmehrheit. Daraufhin entflammte eine Debatte, ob Leistungen, die von Steuerzahlern finanziert werden, zu derartigen Profiten von privaten Unternehmen führen sollen. Diskutiert wurde unter anderem ein Gewinndeckel für die Bildungskonzerne.
Danach sieht es nun nicht aus, die "freien Schulen" sind weiter umstritten. Eine für Academedia tätige Lehrerin berichtete gegenüber "Le monde Diplomatique" von inflationär guten Noten, um die "Kunden" - also die Eltern - zufriedenzustellen. Die Arbeitsbelastung sei hoch, auch weil Lehrer zusätzlich als Mentoren fungierten. Es käme daher vor, dass schlechte Schüler in die nächste Schulstufe aufsteigen, damit die Lehrer nicht noch mehr Stress haben. Kritiker der "freien Schulen" sehen diese daher auch mitverantwortlich, dass Schwedens Bildungssystem in internationalen Vergleichen deutlich zurückgefallen ist.
Gleichzeitig wird Kritik laut, dass gute Schüler zunehmend in privat geführte Schulen wechseln. "Sie schnappen sich ‚einfache‘ Schüler, also Kinder, die auf die Unterstützung des Elternhauses zählen können. Das ermöglicht es ihnen, mit weniger Lehrpersonal auszukommen als etwa eine kommunale Schule in einem sozial benachteiligten Quartier mit hohem Ausländeranteil", sagt der frühere Lehrer und Gewerkschafter Sten Svensson zur "Neuen Zürcher Zeitung". In Gegenden mit hohem Migrantenanteil würde deutlich weniger als die Hälfte der Schüler die Grundschule abschließen. Die Vorstädte sind seit Jahren Hort von Bandenkriminalität, Jugendliche ohne schulische und berufliche Perspektive werden dort rekrutiert.
Die Betreiber der "freien Schulen" verweisen darauf, dass Private effizienter mit den Mittlen umgingen als die Konkurrenz. Aber auch auf ihren klassischen Leistungsbegriff, während in öffentlichen Schulen zu sehr auf eine schwammige Persönlichkeitsentwicklung geachtet würde. Diesen Vorwurf führen auch Mitte-rechts-Politiker ins Treffen, wenn sie das bestehende System verteidigen.
Auch Gesundheit und Pflege wurden liberalisiert
Von den Sozialdemokraten wurde es mitgetragen oder zumindest geduldet. Das gilt auch für privatisierte Gesundheitsleistungen, die größtenteils mit dem Geld der Steuerzahler bestritten werden. In den Krankenhäusern rächen sich mittlerweile die Einsparungen in der Vergangenheit: Jedes vierte Bett wurde in den vergangenen zehn Jahren gestrichen. Im Sommer machten Meldungen die Runde, wonach Patienten in Gangbetten untergebracht werden mussten.
Auch der Pflegesektor ist seit den 1990ern liberalisiert worden. In der Corona-Pandemie erlange der Bereich traurige Bekanntheit. In der ersten Phase der Pandemie bestand die Hälfte der Covid-19-Toten aus Bewohnern von Seniorenheimen. Doch bereits vor dem Ausbruch meldete die Arbeitsschutzbehörde, dass in fast 90 Prozent der untersuchten Pflegeheime Defizite bei den Arbeitsbedingungen herrschten. Schweden kommt den eigenen Ansprüchen nach einem funktionierenden Sozialstaat teils kaum mehr nach.