"Hexenjagd" in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Türkei übt nach Kern-Vorstoß massive Kritik an Österreich.
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Ankara/Wien. Armee, Justiz, Ministerien, Medien, Geschäftswelt und Bildungswesen sind nach dem Putschversuch in der Türkei bereits großflächig "gesäubert", jetzt sind die Parteigänger von Präsident Recep Tayyip Erdogans AKP an der Reihe. Es gibt keinen Bereich des öffentlichen Lebens mehr, der nicht von Verhaftungen betroffen wäre, viele sehen das Land am Bosporus auf dem Weg in die Diktatur.
AKP-Vize-Parteichef Hayati Yazici ordnete in einem Rundschreiben eine "dringende Säuberung" der Partei an, um mögliche Anhänger des islamischen Predigers Fetullah Gülen zu entfernen. Hakan Akbulut, Experte im Österreichischen Institut für Internationale Politik, würde angesichts der Dimension der Säuberungen durchaus von einer "Hexenjagd" sprechen. Die Entwicklung sei "besorgniserregend", auch wenn man von Außen nicht beurteilen könne, wer hinter dem Putsch stecke, so Akbulut zur "Wiener Zeitung". Durch die "Säuberungen" im Justizbereich sei es auch zweifelhaft, ob jemals die Schuldigen ausfindig gemacht werden könnten.
Gülen war zunächst ein Mitstreiter Erdogans, fiel dann in Ungnade und lebt jetzt im Exil im US-Staat Pennsylvania. Er beteuert, weder von dem Putschversuch gewusst noch ihn unterstützt zu haben. Experten wollen allerdings nicht komplett ausschließen, dass die Gülen-Bewegung ihre Finger mit im Spiel gehabt haben könnte.
Der Prediger und dessen Anhänger sind aber willkommener Anlass für Erdogan, den Staat in seinem Sinn in ein autoritäres Präsidialsystem umzubauen. Versuche, das auf demokratischem Weg durchzusetzen, sind zuletzt gescheitert. Erdogan sei gestärkt aus dem missglückten Putsch hervorgegangen und versuche nun, sei Macht zu festigen, bestätigt Akbulut. Es werde diskutiert, den Generalstabschef und den Chef des Geheimdienstes dem Präsidenten zu unterstellen. "Die Frage ist aber, warum nicht dem Premierminister?", fragt Akbulut. Ob diese Entwicklung in die Diktatur führe, müsse man abwarten.
Seit dem Putschversuch im Juli wurden 25.000 Menschen festgenommen, 13.000 befinden sich immer noch in Haft. Die Reisepässe von 75.000 Türken wurden für ungültig erklärt.
Wobei Akbulut betont, dass der Putschversuch für Erdogan "böse enden" hätte können. "Wir sprechen von einem Land, wo ein Premierminister und zwei Minister 1960 von der Junta gehenkt worden sind." Hier in Österreich sei der Putsch sehr schnell verarbeitet worden, die Türken hätten dazu aber "einen anderen Zugang".
Zu den jüngsten österreichisch-türkischen Spannungen (der türkische Außenminister Cavusoglu hat Österreich als "Hauptstadt des radikalen Rassismus" bezeichnet, nachdem Bundeskanzler Christian Kern einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen gefordert hatte), meint Akbulut, dass Kern durchaus Recht habe, wenn er die Fortführung Beitrittsverhandlungen in Frage stelle. Man müsse aber auch sehen, dass die Türkei und die türkische Community in Österreich in letzter Zeit heftiger Kritik aus Österreich ausgesetzt gewesen sei. Die Diskussion müsse sachlich geführt werden, er halte nichts davon, mit Wörtern wie "rechtsextrem" um sich zu werfen. Erdogan selbst habe nach dem Brexit ein Referendum über die Fortführung der EU-Beitrittsgespräche ins Spiel gebracht.