Zum Hauptinhalt springen

Saugglocken gegen Kopfschmerzen

Von Muhamed Beganovic

Politik
Das Schröpfen mit Vakuumbechern am Rücken soll die Abwehrkräfte steigern.
© Beganovic

In Bosnien hat das nasse Schröpfen Hochkonjunktur. Die obskure Behandlungsform lockt sogar die Diaspora in die Heimat.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien/Sarajevo. "Doktor, ich will wieder normal atmen", beginnt ein kräftiger Mann in seinen Dreißigern sein Plädoyer. Mehmed Spahic, kurze, schwarze Haare, dicke Augenbrauen, raues Gesicht, erzählt von seinem linken Nasenloch, das seit eh und je zugeschwollen ist. Eine Operation im Penzinger Hanusch-Krankenhaus im Jahr 2011 hat nichts geholfen. Jetzt versucht er es mit dem nassen Schröpfen in einer Schröpfer-Klinik in Sarajevo. 780 Kilometer ist der Wahl-Wiener in die bosnische Hauptstadt gefahren, um sich auf diese Weise - als letzter Ausweg - von seiner Qual zu befreien. Er ist skeptisch. Der Arzt hört ihm aufmerksam zu. Er vermutet, der junge Mann könnte ein physisches Trauma erlitten haben. Er schlägt eine eher ungewöhnliche Methode vor: nasses Schröpfen auf der Stirn.

"Ist das dein Ernst?", will Spahic wissen. Aus Skepsis wird Misstrauen. Das würde bedeuten, dass ihm der Arzt kleine Mikroschnitte auf der Stirn zufügen muss, auf die er dann einen Vakuumbecher legt. Abgesehen von den Schmerzen, die dabei entstehen, wären die Folgen - sprich die Wunde - für eine längere Zeit sichtbar. Erst durch das Einlenken der Ehefrau, die ebenfalls mitgereist ist, besänftigt sich der Wiener und willigt ein.

Grundlagen aus alten islamischen Medizinbüchern

Der Arzt, Denial Durmisevic, ein Bär von einem Mann mit gepflegtem Vollbart, ist Ablehnung gewöhnt. Spahic ist nicht sein erster Patient, der mit einer gesunden Portion Skepsis zu ihm kommt. "Sie verlassen aber alle zufrieden meine Klinik", sagt der Arzt, der genau genommen ein ausgebildeter Medizin-Techniker ist. In Bosnien Herzegowina muss man keinen Doktor-Titel haben, um diese Behandlungsform, die unter die Haut geht, ausüben zu dürfen. Das Land hat noch keine Gesetzesentwürfe präsentiert, die alternative Heilmedizin regulieren.

Das nasse Schröpfen wurde in den vergangenen fünf Jahren immer populärer. Mittlerweile sperren Kliniken auf, die sich nur auf Schröpfen spezialisiert haben. Mit Durmisevics Klinik sind es aktuell drei. Er hat sich die Grundlagen des Schröpfens selber beigebracht. Er studierte alte islamische Medizinbücher, in denen von der Hidzama die Rede ist.

Hidzama und nasses Schröpfen ist ein und dasselbe. Nahezu in jeder großen Zivilisation der Vergangenheit lassen sich Quellen finden, die über das Schröpfen oder über Aderlass sprechen. "Zu Lebzeiten des Propheten Muhammad, etwa um das Jahr 600, wurde die Behandlung zu einer gängigen Praxis, um Kopfschmerzen, aber auch andere Schmerzen und gar Krankheiten zu behandeln", erzählt Durmisevic. Heutige Hidzama-Ärzte - sie werden Hadzar genannt - gehen sogar so weit zu behaupten, die Behandlung könne alle modernen Volkskrankheiten heilen, darunter hohen Blutdruck, Cholesterin oder gar Diabetes.

Denial Durmisevic nimmt eine neue Rasierklinge aus der Verpackung, desinfiziert Spahics’ Stirn und ritzt in die raue Haut seines Patienten. 40 bis 50 Mikroschnitte fügt er zu. Dann legt er den Vakuumbecher an. So lange, bis das Blut von alleine aufhört zu fließen. Das dauert im Schnitt nicht länger als zehn Minuten. "Die Menge Blut, die herausfließt, ist zu gering, um dem Körper Schaden zuzufügen", sagt der Arzt. In der Regel sollen etwa 50 Milliliter Blut rauskommen. In der Wartezeit kümmert sich Durmisevic einstweilen um einen anderen Patienten.

Seine Praxis ist spartanisch eingerichtet. Ein Gang, zwei Behandlungsräume zu je etwa sechs Quadratmeter und zwei kleine Klos. Er hat die Praxis vor einem Jahr aufgesperrt. Zur gleichen Zeit hat er einen Schröpf-Fernkurs in England begonnen. "Ich konnte die Basics, wollte aber das Schröpfen professionell lernen", sagt er. Sein neuer Patient will sich "eine präventive Hidzama" gönnen. Die werden gemacht, um die Abwehrkräfte zu stärken. Der Patient legt sich flach auf den Bauch auf eine alte, braune Liege. Das Prozedere ist das Gleiche. Rasierklinge. Mikroschnitte. Becher. Einziger Unterschied: Jetzt legt Durmisevic dem Patienten zehn Becher auf den Rücken, pro Becher etwa 40 Mikroschnitte. Blutstropfen zieren ganz schnell den Rücken des üppigen Mannes.

Mit der Hilfe Allahs und für 40 konvertible Mark

"Hey! Ich kann atmen", hört man einen Mann sagen, der sich im Behandlungszimmer nebenan befindet. Die Wände sind dünn. Spahics linkes Nasenloch ist wie durch ein Wunder frei geworden. Er kann wieder normal atmen. Ganz glauben kann es Spahic aber immer noch nicht.

Durmisevic sieht solche Resultate jeden Tag. Die Becher saugen "verunreinigtes Blut" aus, das sich an der Körperstelle angesammelt hat, an der die Behandlung gemacht wird. Dadurch soll die Produktion neuer Blutzellen angekurbelt und die Blutzirkulation gefördert werden, erklärt Durmisevic den Heilprozess. Wie genau aber der Abguss von höchstens 50 Milliliter Blut das angeschwollene Nasenloch heilen konnte, kann er nicht beantworten. "Die Heilung kommt immer von Allah", sagt der Arzt.

50 bis 100 Menschen heilt er so - mit Allahs Hilfe - jeden Monat. 40 konvertible Mark (20 Euro) verlangt er für seine Leistung. "Die meisten kommen zu mir, weil sie Kopfschmerzen, Migräne oder hohen Blutdruck haben", sagt Durmisevic. Andere wiederum, um ihre Abwehrkräfte zu stärken.

So wie der Mann auf dem brauen Behandlungstisch. Spahic verlässt glücklich den Behandlungsraum. Im Gang blickt er in den Spiegel und seine Miene verfinstert sich. Er hat einen Baseball-großen blauen Fleck auf der Stirn. Er holt sich eine Haube aus der Jackentasche, setzt sie auf, atmet ganz tief ein und verlässt die Arztpraxis.