Der bereits seit einiger Zeit kursierende Begriff "fremdschämen" ist zum Wort des Jahres 2010 gewählt worden. Begründung der Jury der Uni Graz: Es beschreibe "Empfindungen, die auftreten, wenn jemandem die Verhaltensweisen einer anderen Person oder Gruppe so peinlich sind, dass man sich für diese schämt, während dies bei der betreffenden Person gerade nicht der Fall ist. Angesichts des Verlusts an Qualität in vielen Bereichen und der Stagnation in der Politik verschiebt sich das Verantwortungsgefühl auf die Bürger, die sich für die Zustände und die dafür Verantwortlichen immer öfter genieren, obwohl die Lösung nicht in ihren Händen, sondern in jenen der Politiker liegt, die aber vielfach untätig bleiben."
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Die Welt ist schlecht, früher war alles besser. Überhaupt geht alles zugrunde. Kulturpessimismus ist keine neue Erfindung. Der Rückschluss, dass dahinter jedoch ein höheres Verantwortungsbedürfnis des einzelnen Bürgers steckt, ist eine kühne, naiv optimistische Hypothese. Denn es schämt sich immer einfacher für den anderen als für sich selbst. Und im anderen schämt man sich ja schließlich in der Projektion auch nur für das Eigene. Eigenverantwortung würde bedeuten, sich für sich selbst zu schämen, die eigene Untätigkeit, die eigene fehlende Zivilcourage oder Stagnation. Das erkannte schon der Philosoph Günther Anders in seiner schlichten Beobachtung: Man tut es, aber niemand ist es gewesen.