Völlig richtig, dass die EU der Türkei Rückendeckunggegen kurdischen Extremismus gibt. Aber könnte sich Europa wünschen, dass die Türkei schon heute EU-Vollmitglied wäre? | gegen kurdischen Extremismus gibt. Aber könnte sich Europa wünschen, dass die Türkei schon heute EU-Vollmitglied wäre? | In der Türkei-Frage ist die EU zur Zeit in zweifacher Mission unterwegs, aber sorgsam bemüht, ja keinen Zusammenhang zu erkennen oder gar herzustellen. Auf der einen Seite bemüht sie sich, die Entstehung eines neuen Kriegsherdes durch einen Einfall der türkischen Armee im Kurdengebiet des benachbarten Irak zu verhindern.
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Auf der anderen, davon formal völlig abgekoppelten Ebene laufen die Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei weiter. In dem am heutigen Dienstag zu erwartenden Erweiterungsbericht sind zwar - etwa in der wichtigen, auch für das Schicksal vieler Kurden relevanten Menschenrechtsfrage - wenige Fortschritte zu verzeichnen. Aber EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn kündigte schon an, dass Verhandlungen über zwei weitere Sachgebiete demnächst eröffnet werden sollten. Es ist so wie mit einer mechanischen Uhr - im Oktober 2005 wurde sie durch die Eröffnung der Verhandlungen aufgezogen und jetzt tickt sie so lange, bis sie jemand aufhält. Aber das traut sich niemand. Im Gegensatz zur Physik gibt es in der Politik sehr wohl ein Perpetuum mobile.
Wäre die EU bürgernäher, was ihr angesichts der nahenden Europawahlen wieder einmal gut anstünde, dann müssten ihre Repräsentanten über das sprechen, was Sache ist. Wie stellt sich die EU eigentlich ihre Zukunft mit einem EU-Mitglied Türkei vor, deren Konflikte mit der kurdischen Volksgruppe, die innerhalb und außerhalb der Türkei rund 30 Millionen Menschen zählt, im Laufe der Jahre zwischen dreißig- und vierzigtausend Todesopfer gefordert haben? Auf der Jagd nach dem Kurdenführer Abdullah Öcalan hat die Türkei 1999 auch schon gedroht, in Syrien einzumarschieren. Jetzt genehmigte das Parlament militärische Operationen in Nordirak - sie sind bereits angelaufen.
Es ist nicht im mindesten als Feindseligkeit gegen die um ihre Souveränität kämpfende Türkei zu werten, wenn man die Sorge äußert, dass sich die EU mit der Aufnahme dieses 71-Millionen-Staates überheben würde. Allein die sicheren EU-Außengrenzen oder gar den Schengen-Raum mit Bezug auf ein EU-Mitglied Türkei neu zu definieren, ist grotesk. In der EU-Sicherheitsstrategie von 2003, die unter dem Eindruck des Al-Kaida-Terrors formuliert wurde, bekannte die EU, dass sie längst Ziel und Stützpunkt des Terrors ist.
Warum sollte sich die Gemeinschaft die strukturellen Probleme mit einem auf die drei Staaten Türkei, Iran und Irak verteilten Unruheherd einverleiben, statt ihren eigenen strategischen Empfehlungen zu folgen: "Wir müssen darauf hinarbeiten, dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entsteht, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können." In dieses Konzept passt eine mit vielen EU-Sonderregelungen ausgestattete Türkei ausgezeichnet - freilich nicht, wenn die Regierung in Ankara den Vollbeitritt aus Prestigegründen als einzige Lösung betrachtet.
Es ist aber durchaus möglich, dass die EU im Ablauf der Verhandlungsautomatik den Schluss zieht, es sei besser, die Türkei samt ihren Problemen herein zu nehmen als sie vor ihren Toren zu lassen. Und dann zu spät die Folgen merkt. Denn die Kurdenfrage bildet bloß die aktuellste, aber gewiss nicht entscheidende Risiko-stelle im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsbegehren der Türkei.