Die 24-Stunden-Pflege scheint eine gute Form der Altenpflege zu sein. Bei Patienten, die an Alzheimer erkrankt sind, kann sie sich jedoch sehr kompliziert gestalten - Eine Fallgeschichte.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"17. Oktober. Die Patientin akzeptierte mich nicht. Am Morgen beim Waschen war sie plötzlich aggressiv geworden und ich konnte sie nicht anziehen. Am Abend widersprach Pat. wieder und legte sich ins Bett angezogen.
18.10. Die Laune der Pat. verändert sich sehr oft. Mal normal, mal aggressiv.
19.10. Die Pat. ist psychisch krank. Sie akzeptiert keine Hilfe. Morgenmedikamente hat sie nicht eingenommen.
20.10. Frau N. war bis Abend böse. Sie hat wenig gegessen, aber genug getrunken. Zwar hat sie Abendmedikamente eingenommen, erlaubt aber nicht, sie auszuziehen.
21.10. Die Pat. ist total verrückt. Sie hat die Medikamente nicht eingenommen, ist aggressiv und geht nicht schlafen.
22.10. Die Pat. war bis Mittag böse, am Nachmittag bekam sie Besuch, am Abend ging es besser.
23.10. Die Pat. aß wenig.
24.10. Die Pat. schwach, hat wenig getrunken und sehr wenig gegessen. Urin ist konzentriert.
25.10. Die Pat. hat nichts gegessen und sehr wenig getrunken. Der Arzt hat sie untersucht. Sie bekam eine Infusion 5% Glucose-500,0.
26.10. Die Pat. hat nur 1,5 Glas Wasser getrunken und bekam eine Infusion - Ringer 500,0.
27.10. Der Gesundheitszustand der Patientin verschlechterte [sich]. Sie bekam Ringer-Lactat ‚Fresenius‘ Infusionslösung 1000 ml, ihr Atem ist mit Geräuschen und sehr schwer. Der Hausarzt wollte sie ins Krankenhaus schicken, aber ihre Angehörige wollte das nicht. Die Patientin liegt im Sterbebett. Um 18.35 starb sie."
Alleinleben im Alter
Frau N., 83 Jahre alt, an Alzheimer erkrankt, lebte bis zu ihrem Tod allein in ihrem Haus. Über lange Jahre wurde sie in Zusammenarbeit mit Hauskrankenpflegerinnen, Heimhilfen wie anderen sozialen Diensten von einer 30 Kilometer entfernt lebenden und berufstätigen Angehörigen betreut. Längst war sie nicht mehr fähig, sich selbst einfachste Speisen zuzubereiten.
Ihre Betreuung funktionierte leidlich, allerdings stets gegen den Widerstand der Kranken, die nicht wahrhaben wollte, dass sie auf die Hilfe anderer angewiesen war. Ab einem bestimmten Zeitpunkt war es unverantwortlich, sie über Nacht allein, unbeaufsichtigt zu lassen. Eine Einweisung in ein Alters- oder Pflegeheim lehnte sie stets kategorisch ab. In diesem Fall würde sie in den Fluss gehen, später sprach sie davon, aus dem Fenster zu springen.
Betreuerinnen
Über eine Agentur wurde eine 24-Stundenpflege organisiert. Die ihr fremden Betreuerinnen in ihrer Wohnung erlebte sie als Störung und Eingriff in ihr Leben. Sie verweigerte zunehmend jede Nahrungsaufnahme. Mochte sie noch so verwirrt und verloren in der Welt sein, so sagte sie oft genug unmissverständlich, sie wolle nichts mehr essen, weil sie sterben möchte. Die Endlosschleifen, in denen sie sich noch Jahre zuvor lange bewegen konnte, stets wieder mit denselben Sätzen beginnend, waren verschwunden. Damals hatte sie noch versucht, teilzuhaben. Darum bemühte sie sich nun nicht mehr.
Frau N. dürfte wohl einen sehr einsamen Tod gestorben sein. Keine beruhigenden Worte, kein Richten der Kissen. Womöglich saß die Betreuerin in einem Stuhl und schaute dem Geschehen distanziert wie einem sterbenden Insekt zu. Es sei sehr interessant gewesen. Sie rieche es, nahe der Tod. All das habe sie schon mehrfach erlebt. Die Betreuerin, die mit der Sterbenden allein war, ließ die Tote so liegen, wie sie verschieden war, mit offenem Mund und starrenden Augen. Noch in der Nacht packte sie ihre Sachen und fuhr mit dem ersten Zug, der sich ihr bot, weg.
Wer möchte nicht bis zu seinem Tod in seinen eigenen vier Wänden leben? "Alt werden in Würde und in gewohnter Umgebung", das versprechen Agenturen, die Betreuungskräfte vermitteln, die zumeist aus Ländern des ehemaligen Ostblocks stammen. Das Pflegepersonal werde genauestens ausgesucht. Insbesondere werde auf Ausbildung, Sprachkenntnisse, Charaktereigenschaften wie haushalterische Fähigkeiten geachtet. Oft genug finden sich im Werbematerial junge hübsche Frauen.
Versprechen und Wirklichkeit können weit auseinanderklaffen. Eine der Agenturen - ihre Hochglanzbroschüren liegen in entsprechenden Ambulanzen auf - verfügt nicht einmal über ein Büro. Besprechungen finden in Lokalen statt. In keiner einzigen Werbebroschüre fand ich Hinweise auf mögliche Konflikte, etwa Anmerkungen darüber, in welchen Fällen eine 24-Stundenpflege nicht funktionieren kann.
Hilfe und Kontrolle
Manche Agenturen beschränken sich auf die Vermittlung. Für alles andere sind die Angehörigen wie die vermittelten Frauen zuständig. Andere Agenturen versprechen die Betreuung der vermittelten Pflegekräfte. Die behauptete Betreuung der vermittelten Pflegekräfte gilt wohl weniger diesen, als den eigentlichen Kunden, nämlich den Angehörigen. Der Tod von Frau N. hätte mit der Betreuerin besprochen werden müssen. Das geschah nicht. Es fehlte auch an einer wirklichen Kontrolle. Nicht die Agentur, die Nachbarn übten so etwas wie eine Kontrollfunktion aus, wenn sie sich etwa daran stießen, dass eine der Betreuerinnen auf dem gut einsehbaren Balkon Frau N. die Windeln wechselte.
Der Umgang mit Alzheimerkranken setzt eine große Kompetenz voraus. Keine der Betreuerinnen von Frau N. war wirklich darauf vorbereitet. Sie haben den schwierigen Balanceakt, den Pflege im Allgemeinen, die Betreuung von Alzheimerkranken im Besonderen fordert, nicht gelernt, nämlich sich einer Person zuzuwenden und dabei Distanz zu wahren, sich einzufühlen, aber nicht alles auf sich zu beziehen.
Es gibt gute Indikatoren, um ein Betreuungsverhältnis zu beurteilen. Es ist ein Unterschied, ob ein Kranker von oben herab angesprochen wird oder ob man Augenhöhe sucht und sich die dafür notwendige Zeit nimmt. Es ist ein Unterschied, ob ein Kranker ruckartig aus einem Sessel gehoben wird oder ob man ihn in seinen Bewegungsmöglichkeiten unterstützt. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand einen Kranken wie einen Gegenstand wäscht oder ob das Waschen in Form eines Gespräches geschieht, Schamgefühle respektierend.
Medikamenteneinnahme lässt sich erzwingen. Man kann sich aber auch Zeit lassen, sich um die Einnahme bemühen, auch auf die Gefahr hin, dass dies nicht immer gelingt. Es ist ein schlechtes Zeichen, möchte eine Betreuerin den Kranken den ganzen Tag am liebsten im Bett sehen. Manchmal genügt ein Blick in den Kühlschrank. Nach Frau N.’s Tod fand sich darin ein Topf, darin zwei monströse Putenkeulen in einer Fertigsauce. Ohne jeden Zweifel ist das nicht die richtige Nahrung für einen Menschen, der keine Zähne mehr hat und die Nahrungsaufnahme verweigert.
Wie die eingangs zitierte Betreuerin betrachtete auch eine ihrer Kolleginnen Frau N. schlichtweg als verrückt. Sie dachte sich - wie viele andere - Alzheimer als Gehirnabbau, der in vollkommener Verblödung ende. Frau N. würde ohnehin nichts mehr wahrnehmen, nichts mehr spüren. Man müsse sie nur gießen wie eine Pflanze. Mochte Frau N. schon seit langem nicht mehr wissen wie eine Gasheizung in Betrieb zu setzen ist, sich nicht mehr mit dem Essbesteck zurechtfinden, so war sie keineswegs empfindungslos, ihr Kopf alles andere als leer. Was sie sagte mochte sich oft wirr anhören, aber "sinnloses Zeug" war es nicht.
Tatsächlich entwickelte sie gerade in ihren letzten Lebensjahren ein ausgesprochenes Gefühl für das, was sie im Kontakt mit anderen erlebte. Sie war in dieser Zeit sehr hellhörig für alles, was sie betraf, reagierte empfindlich oder aggressiv, wurde über ihren Kopf hinweg über sie gesprochen. Freilich verstand man Vieles erst im Nachhinein. Betrachtet man einen Menschen als Reiz-Reaktionsmaschine, dann muss man sich nicht bemühen, ihn zu verstehen. Man kann ihn nackt auf dem Leibstuhl sitzen lassen, gleichgültig, ob jemand bei der Tür hereinkommt oder nicht.
Genau genommen ist es unverantwortlich, eine unausgebildete Betreuerin mit einer Alzheimerkranken allein zu lassen. Drei Wochen Tag und Nacht allein mit einer schwierigen Patientin zu verbringen, das ist zweifellos eine große Herausforderung, der nicht alle gewachsen sind. Wie soll man mit der eigenen Wut umgehen, die in der Betreuung von Alzheimerkranken oft erlebt wird? Mit wem könnte man über solche Erfahrungen sprechen?
Es ist auch unverantwortlich einer Kranken gegenüber, die nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Gegebenenfalls ist sie der Betreuerin hoffnungslos ausgeliefert. Dass die Medizin in einem hohen Maß arbeitsteilig organisiert ist, hat nicht allein ökonomische Gründe. Da die Betreuung Kranker neben bedrohlicher Identifikation, etwa der Angst, selbst an Alzheimer zu erkranken, zwangsläufig mit der Verletzung von Tabus verknüpft ist, man denke an die weiten Bereiche von Sexualität und Tod, kommt der Arbeitsteiligkeit eine Entlastung, nicht zuletzt die Funktion wechselseitiger Kontrolle, zu.
Beruhigungsmittel
Eine der Betreuerinnen wünschte sich eine vollkommen sedierte Patientin. Oft sagte sie, Frau N. sei aggressiv, sie könne nicht schlafen, sie sei unruhig, wandere in der Nacht in der Wohnung umher. Der Arzt möge die Dosis der Beruhigungsmittel erhöhen. Auf ihre Bitten hin verschrieb der Arzt mehrfach höhere Dosierungen. Tatsächlich verbrachte die Kranke in der Folge die meiste Zeit im Bett, saß in ihrem Sessel, starrte apathisch vor sich hin. Eine andere Betreuerin holte die Kranke wiederholt mit großem Einfallsreichtum aus ihrer Apathie, deren Aggressionen in Kauf nehmend. Zwei Wochen brauche sie nach einem Wechsel, so meinte diese Betreuerin einmal, um die Kranke wieder zu erreichen. Sie nahm die Nebenwirkung der Medikamente wahr und bemühte sich deshalb um eine Reduzierung der Dosis.
Sicher ist für manche Patienten eine 24-Stunden-Pflege eine optimale Lösung. Aber verallgemeinern lässt sich das nicht. Frau N. wäre vermutlich in einem Altersheim besser aufgehoben gewesen. Dort gibt es einen Tagesrhythmus. Man ist nicht nur auf eine einzelne Person, ob man diese nun mag oder nicht, angewiesen. Unter mehreren Pflegerinnen hätte sich wohl eine gefunden, mit der Frau N. können hätte. So jedoch war sie zu Hause mit einer Betreuerin "zusammengesperrt", der sie sich ganz ausgeliefert fühlte, und das in ihren eigenen vier Wänden: ". . . ich fühle mich hier nicht mehr zu Hause . . . jetzt gehört nichts mehr mir . . . Wenn diese fremden Madeln mich anschauen, freut es mich nicht. "
Dass Frau N.’s Klagen einen realen Kern hatten, wurde erst später deutlich. Offensichtlich suchte eine der Betreuerinnen ihr bescheidenes Einkommen durch kleinere Diebstähle aufzubessern. Die Schubladen mit den Spitzendecken leerten sich allmählich. Da und dort verschwanden Dinge, die sich auf Flohmärkten verkaufen lassen. Schlimmer wog das Verschwinden des Ringes, den Frau N. seit vielen Jahren trug. Eine rumänische Betreuerin, der man eine pflegebedürftige Person und somit auch deren Haus anvertraut hat, des Diebstahls zu bezichtigen, fällt nicht leicht. Automatisch muss man an Vorurteile denken, die Rumänen betreffen. Und sollten die Vorwürfe zutreffen, so kann es sich auch um einen Einzelfall handeln.
Wer immer mit Frau N. in ihren letzten Lebensjahren zu tun hatte, dem fiel ihr Bedürfnis auf, wegzuwerfen, angefangen bei eben erst eingekauftem Essen bis hin zu Familienfotos oder auch wichtigen Dokumenten. Dieses Verhalten ist verständlich. Wer sich in der Welt nicht mehr zurecht findet, muss Übersicht schaffen. Frau N. konnte viele Gegenstände nicht mehr in Beziehung zu ihrem Leben setzen. Mochte ein solches Verhalten auch kleinere Diebstähle begünstigen, so spiegeln sie nur zu gut das konfliktreiche Verhältnis von Betreuten wie ihren Betreuerinnen, auch das Gefühl, für die geleistete Arbeit viel zu schlecht entlohnt zu werden.
Zorn und Tränen
Frau N. war alles andere als "pflegeleicht". Sie trieb ihre Betreuerinnen immer wieder in große Verzweiflung, auch jene, die sich aufmerksam um sie bemühten. Es gab mehrfach Tränen. Einmal saß Frau N. mit nacktem Oberkörper am Bett und sagte zu einer Besucherin: "Schau, was die mit mir machen." Sie deutete auf eine offene Hautstelle am Oberarm: "Das haben sie getan!" Die offene Hautstelle könnte die Folge eines festen Griffes gewesen sein, womöglich um die widerspenstige Kranke endlich ins Bett zu bringen.
Bei distanzierter Betrachtung fällt es schwer zu differenzieren, ob das aggressive Verhalten Folge der Grunderkrankung ist, mit verabreichten Medikamenten, immer wiederkehrenden Stoffwechselentgleisungen zu tun hat, oder ob dieses dem Charakter oder der Betreuung zuzuschreiben ist. Selbst ausgebildete Hauskrankenpflegerinnen beschrieben Frau N. als "böse" Patientin, sahen das Problem also in ihrem Charakter.
Eine 24-Stundenpflege ließe sich auch anders organisieren. Es ließen sich Kriterien nennen, die dagegen sprechen. Das kann man Angehörigen nur bedingt überlassen, haben sie doch in der Regel keine diesbezüglichen Erfahrungen. Die Lösung sehe ich nicht dort, wo auch dieser Bereich noch der allgemeinen Zertifizierungswut überantwortet wird, sondern in der Dokumentation und Besprechung all der Konflikte, die in solchen Betreuungsverhältnissen zwangsläufig vorkommen. Wäre dies tatsächlich der Fall, von der Anwerbung über die Ausbildung bis hin zur Betreuung, vieles geschähe anders. Denke ich an Frau N., dann konnte es keine wirklich optimale Lösung geben. Manche Dinge hätten sich freilich vermeiden lassen. Und wenn ich das schreibe, dann denke ich auch an die Betreuerinnen, die nicht selten so etwas wie Sklavendienste in einer globalisierten Welt zu verrichten haben.
Wie Betreuerinnen nach charakterlichen Eigenschaften ausgewählt werden (das diesbezügliche Auswahlverfahren wäre eine Untersuchung wert), so neigt man dazu, Konflikte durch den Charakter der Betreuten zu erklären. Betreute wie Betreuer (in der Regel handelt es sich um Frauen) verbindet einiges. Aber das Verbindende bleibt nicht nur unfruchtbar, sondern hat oft noch tiefere Gräben zur Folge. Den einen wie den anderen wird Geschichte abgesprochen. Geschichte kann man nur haben, weiß man um die Geschichte des anderen. Vielleicht sollte man Betreuerinnen, die sich bei einer Agentur bewerben, weniger über Alzheimer oder andere Krankheitsformen erzählen, ihnen statt dessen Raum geben, ihrer eigenen Geschichte, ihren Wünschen oder ihren oft tristen Lebensverhältnissen Ausdruck zu verleihen.
Eines Tages sprach Frau N. nur noch Italienisch. Die Betreuerin bat Frau N., doch deutsch zu sprechen, da sie italienisch nicht verstehe. Frau N.: "Mädchen, dann lern Italienisch."
Bernhard Kathan, geboren 1953, lebt als Sozialwissenschafter, Publizist und Künstler in Innsbruck. Er betreibt im Internet das HIDDEN MUSEUM. www.hiddenmuseum.net