Zwischen Widerstand und Eingliederung: Österreichs Fußball zwischen 1938 und 1945 - und welche Legenden sich bis heute erhalten haben.
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Er war, wie das Magazin "Fußball-Sonntag" schrieb, "der Beste, den Wiens weltberühmter Fußballsport jemals hervorgebracht hat": Matthias Sindelar. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich daher am 23. Jänner 1939 die Nachricht in Wien, dass das Sportidol im Alter von nur 35 Jahren gestorben war. Der beliebteste Fußballspieler seiner Zeit war tot in seiner Wohnung aufgefunden worden.
Um Sindelars Tod ranken sich bis heute Gerüchte, die offizielle Ursache, eine Rauchgasvergiftung, wurde oft bezweifelt. Gerüchte über Mord oder Selbstmord machten bald die Runde, es wurde sogar spekuliert, dass das NS-Regime seine Finger im Spiel gehabt hatte. Nichts davon konnte bewiesen werden, aber an Sindelars Leben und Karriere lassen sich viele Entwicklungen nachvollziehen, die Österreichs Fußball rund um das Jahr 1938 nahm.
Fußball war schon vor dem Ersten Weltkrieg sehr populär geworden, in der Zeit zwischen den Kriegen stieg er zu einem Phänomen der Massen auf. Wien wurde zu einer der Metropolen dieses Sports und entwickelte eine vielfältige Fußballkultur, die sich aus zwei unterschiedlichen Quellen speiste, nämlich aus dem Kaffeehaus und aus der Vorstadt.
Kaffehaus & Vorstadt
Fußball und Kaffeehaus gingen aus verschiedenen Gründen eine Verbindung ein. In den Kaffeehäusern konnte man die Ergebnisse der letzten Spiele ebenso besprechen wie die bevorstehenden Matches. Vereine richteten eigene Klubcafés ein, die als Treffpunkt für Spieler, Funktionäre und Anhänger dienten. Wer bei einem Match nicht ins Stadion konnte, hatte die Möglichkeit, im Klubcafé die Radioübertragung des Spieles zu hören - public listening also anstelle des heute üblichen public viewing. Die enge Verbindung zwischen Fußball und Kaffeehaus fand noch einen weiteren Ausdruck, zahlreiche Spieler investierten nämlich ihre Einkünfte in Kaffeehäuser und wurden selbst zu Cafetiers.
Die Vorstädte waren die zweite Quelle der Wiener Fußballkultur. Die dicht bevölkerten Arbeiterbezirke, vor allem Favoriten und Floridsdorf, bildeten ein großes Reservoir von Nachwuchsspielern. Für viele Buben aus diesen Gegenden war der Fußball eine der wenigen Möglichkeiten, zu einem guten Einkommen zu gelangen und einen sozialen Aufstieg zu schaffen. Auch Matthias Sindelar kann als Beispiel dafür gelten. Geboren wurde er 1903 in einem mährischen Dorf, als er drei Jahre alt war, übersiedelte er mit seinen Eltern nach Wien. Favoriten, wo schon viele Zuwanderer aus Böhmen und Mähren ansässig waren, wurde die neue Heimat der Familie Sindelar.
Der erhoffte Aufstieg durch den Sport gelang, Sindelar schaffte bei den Amateuren den Durchbruch. Die erste Einberufung in das Nationalteam folgte und Sindelar konnte mit beiden Mannschaften große Erfolge erringen: Der Mitropa-Cup ging an die mittlerweile in Austria Wien umbenannten Amateure, und mit dem legendären Wunderteam gewann er 1932 den Europapokal der Nationen. Die Mannschaft zerfiel allerdings schon im Jahr darauf, denn viele Spieler nahmen lukrative Angebote aus dem Ausland an. Trotz der Abwanderung blieb der österreichische Fußball im internationalen Vergleich weiterhin erfolgreich.
Am 12. März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Schon vier Tage nach dem Einmarsch war der österreichische Fußball "judenfrei": Jüdische Funktionäre wurden ihrer Ämter enthoben, und über aktive jüdische Fußballer wurde ein Spielverbot verhängt. In einem nächsten Schritt mussten viele dem Fußball verbundene Juden das Land verlassen.
Bis 1938 war der österreichische Fußball auf die mitteleuropäischen Nachbarn und Italien ausgerichtet gewesen, die Duelle mit Mannschaften aus Ungarn oder der Tschechoslowakei waren große Attraktionen für das Publikum. Dies änderte sich mit dem "Anschluss": Der österreichische Fußballbund wurde aufgelöst und trat aus dem Weltverband FIFA aus. Wie der gesamte österreichische Sport wurde auch der Fußball in deutsche Strukturen eingebunden. Die österreichische Meisterschaft wurde zur Gauliga XVII, deren Sieger in den finalen Durchgang um die deutsche Meisterschaft aufstieg.
Um den "Anschluss" auch in sportlicher Weise zu begehen, wurde für den 3. April 1938 ein besonderes Match angesetzt. Die österreichische Nationalmannschaft sollte an diesem Tag ein letztes Mal gegen Deutschland spielen und "noch einmal wird Deutschösterreichs ruhmvolle Auswahlelf der Nationalmannschaft des Deutschen Reiches im friedlichen Wettstreit gegenübertreten", wie der "Fußball-Sonntag" am Tag des Spieles schrieb.
Die NS-Propaganda nutzte das Spiel für ihre Zwecke und machte Werbung für die bevorstehende Volksabstimmung über den "Anschluss". Österreichische Spieler trugen vor über 50.000 Zuschauern ein Transparent mit der Aufschrift "Sportler stimmen mit Ja" über das Spielfeld.
Rot-Weiß-Rot
Um dieses Spiel ranken sich viele Legenden, eine davon betrifft die Farbe der Dressen. Die österreichische Mannschaft lief nämlich in roten Leibchen, weißen Hosen und roten Stutzen auf, eine angeblich von Matthias Sindelar initiierte Hommage an das vor wenigen Tagen untergegangene Österreich. Das Team hatte aber schon bei mehreren Begegnungen zuvor in dieser Farbkombination gespielt, das Rot-Weiß-Rot war also kein Novum.
Auch das Ergebnis des Matches, das mit einem 2:0-Sieg der Ostmark endete, wurde politisch interpretiert. Gerüchten zufolge war mit einer politischen Anweisung den österreichischen Spielern das Toreschießen verboten worden, in einem Akt des Widerstands gegen das Regime wurde diese Vorgabe aber ignoriert. Sindelar soll zudem nach seinem Treffer zum 1:0 gegen die "Piefke" übermäßig gejubelt und wahre Freudentänze aufgeführt haben.
Beide Gerüchte halten einer historischen Überprüfung aber nicht stand: Eine politische Vorgabe konnte nie nachgewiesen werden, und ob Sindelar lediglich über sein Tor jubelte oder damit ein politisches Statement abgab, lag wohl im Auge des Betrachters.
Sportlicher "Anschluss"
Ganz im Sinne der neuen nationalen Einheit zwischen Deutschland und Österreich wurden die besten Fußballer aus beiden Regionen in die großdeutsche Nationalmannschaft einberufen und gemeinsam sollten sie bei der Weltmeisterschaft in Frankreich für Furore sorgen. Dies ging allerdings nicht ohne Konflikte vor sich, der Gegensatz zwischen der "Ostmark" und dem "Altreich" war etwa an den unterschiedlichen Spielsystemen erkennbar - hier das Wiener Scheiberlspiel, dort die Aufstellung im sogenannten WM-Stil.
Trainer Sepp Herberger sollte aber aus politischen Gründen eine "großdeutsche" Mannschaft spielen lassen. Das Ergebnis des sportlichen "Anschlusses" ließ zu wünschen übrig, denn man scheiterte schon in der ersten Runde an der Schweiz und schied aus dem Turnier aus.
Auch auf der Ebene der Vereine war das Verhältnis zwischen der "Ostmark" und dem "Altreich" nicht spannungsfrei. Antideutsche oder antipreußische Ressentiments konnten im Fußball leichter als in anderen Lagen des alltäglichen Lebens geäußert werden. Der Fußball wurde, wie der Historiker Matthias Marschik schreibt, für viele Wiener zu einem "Ventil gegen die vielerorten spürbare Degradierung zur Provinzstadt". Zum Ausdruck kam diese Abneigung etwa am 17. November 1940 beim Spiel der Admira gegen Schalke 04. Im Praterstadion hatten sich 53.000 Zuschauer versammelt, und das Match endete trotz der Überlegenheit der Admira mit 1:1.
Zeugen berichteten nach dem Spiel von antideutschen Ausschreitungen, es kam zu Schlägereien mit Soldaten in Uniform, und noch Stunden nach dem Match prügelten sich im Prater Anhänger der Admira mit der Polizei. In den Medien wurde über diese Vorkommnisse nicht berichtet und es fanden sich nur verklausulierte Anspielungen darauf. So konnte man in den "Wiener Neuesten Nachrichten" am Tag nach dem Spiel lesen: "Man hat uns immer nachgerühmt, dass wir nicht nur das sportverständigste, sondern auch das liebenswürdigste Fußballpublikum hätten. Gestern war davon nichts zu sehen."
Nach anfänglichen Problemen fanden sich die Mannschaften aus der "Ostmark" aber in den deutschen Fußball ein und errangen beachtliche Erfolge: Mit Rapid und der Vienna gewannen zwei Wiener Mannschaften den deutschen Pokal. Am meisten Aufsehen erregte aber der Gewinn der deutschen Meisterschaft durch Rapid. Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Einmarsch in der Sowjetunion, am Abend desselben Tages standen sich im Berliner Olympiastadion Rapid und Schalke 04 im Endspiel um die "Großdeutsche Fußball-Kriegsmeisterschaft" gegenüber.
Rapids legendärer Sieg
Nach einer Stunde lag Rapid mit 0:3 zurück, konnte das Spiel aber noch drehen und mit 4:3 gewinnen. Auch um dieses Spiel ranken sich viele Mythen, die oftmals mit dem Pathos des Widerstands gegen das NS-Regime verbrämt wurden. So war angeblich ein Sieg von Schalke politisch gewünscht, die Wiener bäumten sich aber gegen diese Vorgabe auf und revoltierten auf dem sportlichen Weg gegen das Regime. Ob diese Legende auch der Wahrheit entsprach, konnte nicht nachgewiesen werden.
Ab dem Sommer 1941 wurde es durch den Krieg immer schwieriger, den regelmäßigen Spielbetrieb aufrecht zu erhalten. Auch populäre Spieler, die bis dahin von der Einberufung verschont geblieben waren, mussten nun zur Wehrmacht, und die steigende Intensität des Krieges machte den Fußball zunehmend irrelevant. Dennoch wurde versucht, den Anschein der Normalität so lange wie möglich zu wahren und die Liga wurde fortgesetzt. 1944 war aber auch das nicht mehr möglich und die Meisterschaft wurde eingestellt.
In den letzten Jahren erforschten österreichische Vereine ihre Geschichte in den Jahren zwischen 1938 und 1945. Es bleibt ein zwiespältiges Bild: Fußball wurde bis zu einem gewissen Grad vom Regime als Ventil zur Unmutsäußerung toleriert. Zugleich ergab die wissenschaftliche Aufarbeitung, dass der Mythos, wonach österreichische Fußballer oft sportlichen Widerstand gegen das Regime leisteten, nicht der Realität entsprach.
Auch über Matthias Sindelar wurde geforscht - und hier stand ebenfalls ein zwiespältiges Bild am Ende der Recherchen: Der allseits beliebte Fußballstar profitierte vom "Anschluss", indem er das "arisierte" Café Annahof in Favoriten weit unter seinem tatsächlichen Wert übernehmen konnte.
Christian Hütterer, geboren 1974, Studium von Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, lebt und arbeitet in Brüssel.