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Scheinheilige Empörung

Von Georg Friesenbichler

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Der Westen legt an Russlands Handeln andere Maßstäbe an als an das eigene. Der Konflikt hilft der Ukraine wenig.


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Muss man mit Wladimir Putin Mitleid haben? Weil er in die Krim-Krise hineingeschlittert ist? Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass dem Kreml-Herrscher der Fortbestand eines willfährigen Regimes à la Janukowitsch in der Ukraine lieber gewesen wäre als all die Aufregung um die Annexion eines kleinen Landzipfels.

Aber Bedauern ist nicht angebracht, nicht nur deswegen, weil der russische Präsident trotzdem zumindest kurzfristigen Vorteil aus der Situation gezogen und sich an der Heimatfront hohe Popularitätswerte gesichert hat. Sondern auch deswegen, weil Putin generell kein Guter ist. Er ist verantwortlich für die blutige Unterdrückung der Kaukasus-Völker, lässt Regime-Gegner nach seinem Gutdünken verhaften und einsperren, häuft in seinem korrupten Reich selbst ein Milliardenvermögen an, lässt die Medien nach seiner Pfeife tanzen und leistet rechtsextremen und homophoben Gruppen Vorschub.

Das alles ist längst bekannt, und doch wurden beispielsweise die Olympischen Spiele in Sotschi dadurch nicht wirklich getrübt. Trotzdem ist der Westen plötzlich bass erstaunt über den Charakter des Ex-KGB-Offiziers. Und dieser bedient sich ungeniert der Lektionen, die er noch während des Kalten Krieges gelernt hat. Haben nicht die USA in ihrem "Hinterhof", in Mittelamerika, stets getan, was sie wollten (und diesen Bereich zeitweise auf die ganze Welt ausgedehnt)?

Mit Genuss erinnern die gelenkten Medien Russlands auch an andere Sünden des Westens, gerade, wenn es um den viel beschworenen "Bruch des internationalen Rechts" geht. Ständig wird vom Kosovo gesprochen, jenem früheren Teil Serbiens, dem vor 15 Jahren erst Nato-Bomben den Weg in die Unabhängigkeit sicherten. Diese wird im Übrigen von Russland bis heute nicht anerkannt, ebenso wie von einigen EU-Mitgliedsländern, die Rückwirkungen aufs eigene Staatsgebilde fürchten. Trotzdem hat Putin natürlich das einseitige Krim-Referendum anerkannt, ein Widerspruch, der ihn nicht weiter schert.

Ja, Putin ist geschickt darin, Schwachstellen des Westens auszunutzen, wie er auch schon im Fall des Asyls für Edward Snowden bewiesen hat. In den Chor der scheinheilig Empörten muss man dennoch nicht einstimmen. Was der 91-jährige deutsche Außenpolitik-Doyen Egon Bahr Ende 2013 einigen Heidelberger Schülern erklärte, sollte auch in so manche Redaktionsstuben vordringen: "In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten." Oder zumindest um das, was die Staatenlenker für das Interesse ihres Landes halten.

Wo sich die Großen streiten, geraten gerne die Interessen der Kleinen außerhalb des Blickfelds - diesfalls der Ukrainer. Ihnen ist zu wünschen, dass die finanziellen Hilfsversprechungen von Währungsfonds und EU nicht ähnlich desaströse Auswirkungen haben wie die Sparprogramme in manchen EU-Ländern. Zu anderen Wünschen könnten die Betroffenen das Ihre beitragen: Etwa, indem sie bei den Wahlen die rabiaten Nationalisten und Rechtsextremen, die in der Übergangsregierung sitzen, aus dem Parlament werfen. Man muss sich in Kiew ja nicht in allem dem Vorbild Europa angleichen.