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Scheinheiligkeit der Zwei-Klassen-Medizin

Von Ernest G. Pichlbauer

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Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.

Österreicher leben auf einer Insel der Seligen und mögen keine Veränderungen. Dafür akzeptieren sie auch allerhand Scheinheiligkeit


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Hofrat Dr. P., Beamter i.R. und Bezieher einer stattlichen Pension, hat eine Zusatzversicherung. Jetzt braucht er eine Hüfte und wähnt sich ob seiner Beziehungen und seiner Zusatzversicherung in guter Position, sowohl Spital als auch Zeitpunkt der Operation aussuchen zu können.

Darf er das überhaupt? Dem geschriebenen Gesetz nach, natürlich nicht. Aber was ist das schon wert?

Rechtlich erlaubt eine Zusatzversicherung gar nichts, außer ein bisschen Luxus und die Möglichkeit, sich den Arzt im Spital auszusuchen.

Wie schaut es aber mit dem ungeschriebenen Gesetz aus? Immerhin gilt ja über die Verfassung in ihrer geschriebenen Form hinaus auch die sogenannte "Realverfassung". Also gelten vermutlich auch "Realgesetze".

1,1 Millionen Österreicher haben eine Zusatzversicherung. Von ihren Beiträgen werden an Ärzte in öffentlichen Spitälern jährlich 500 Millionen Euro als Honorare ausbezahlt. Das bedeutet, dass jeder Spitalsarzt monatlich etwa 900 Euro netto (bei 14 Gehältern) zusätzliches Einkommen hat. Von seinem eigentlichen Arbeitgeber, meist Ländern, erhält er etwa 2900 Euro. Zählen wir zusammen, verdient er - wohlgemerkt vom Turnus- bis zum Primararzt - etwa 3750 Euro netto - ein Viertel davon aus einer "Zusatzbeschäftigung"

Aber die Zusatzgelder werden nicht gleichmäßig verteilt. Der Chef bekommt am meisten, der Turnusarzt am wenigsten.

Nehmen wir eine Abteilung mit 20 Ärzten. Wäre das Geld normal verteilt (was keiner weiß), würden dort etwa 250.000 Euro netto zusätzlich ausbezahlt. 60 Prozent behält der Primar - macht ein monatliches Zusatzbrot von 10.700 Euro. Dass ist fast drei (!) Mal mehr, als ihm sein eigentlicher Arbeitgeber bezahlt. 36,5 Prozent werden an die 12 Fach- und Assistenzärzte ausbezahlt: Mehr als drei Prozent pro Nase (hier gibt es je nach Alter und Funktion erhebliche Differenzen) sind pro Monat 540 Euro netto und knapp 20 Prozent des Einkommens. Die verbleibenden 3,5 Prozent teilen sich die sieben Turnusärzte; ergibt vielleicht 100 Euro; die machen sich gegenüber den 2000 Euro Normaleinkommen (inklusiver Überstunden und Nachtdienste) richtig bescheiden aus.

Der Chef bezieht also in einem politisch dominierten System, das offiziell eine Zwei-Klassen-Medizin weder kennt noch kennen will, analog zum Bonussystem der Bankenwelt, ein "erfolgsabhängiges" Einkommen. Warum? Weil man ihm öffentlich nicht mehr zahlen will. Anders ausgedrückt hat die Politik, nur um sich die vielen Spitäler leisten zu können, über Jahrzehnte zugelassen, ja gefördert, dass Primarärzte danach trachten, zusätzliches Geld zu lukrieren - wovon auch die Spitäler etwa 250 Millionen Euro erhalten.

Und jetzt überlegen wir. Wird der Primar an der Idee der "Ein-Klassen-Medizin" fest- und die Gesetze einhalten und seine Abteilung so führen, dass jeder "gleich" behandelt wird? Welche Hilfe erhält er dabei von der Politik? Oder wird ein gesetzestreuer Primar nicht eher von ihr abgestraft?

Wenn die Zwei-Klassen-Medizin öffentlich diskutiert wird, erzählt uns die Politik von Gesetzen und schimpft auf böse, neoliberale Versicherungen und geldgierige Ärzte. Aber das wahrlich Schlimme daran ist, dass 80 Prozent der Bevölkerung von dieser Scheinheiligkeit wissen und sich nicht darüber aufregen. Denn: "Solange der Österreicher noch Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht" (Beethoven).

Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.