Wird die Wahl am 14. Mai Erdogans Ende bringen?
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Wie sich die Zeiten ändern: "Unter der Führerschaft von Premierminister Recep Tayyip Erdogan, einem islamischen Politiker, der demokratischen Pluralismus favorisiert, hat das Land weitreichende Reformen in Angriff genommen, um die Aufnahmekriterien für die EU zu erfüllen", war 2004 in einem Kommentar in der "New York Times" zu lesen.
Doch wie lautet das Urteil über Erdogan heute, nach fast 20 Jahren an der Macht? Niemand kann das besser auf den Punkt bringen als Selahattin Demirtas, der in Edirne inhaftierte Kopf der pro-kurdischen HDP. Erdogan habe versucht, in der Türkei ein Ein-Mann-Regime zu errichten, meinte er gegenüber dem "Spiegel": "Wenn er nun erneut gewinnt, wird die Türkei zu einer Art Diktatur. Diese Wahl ist also eine Entscheidung zwischen Diktatur und Demokratie."
Wie werden die Wählerinnen und Wähler Erdogans Performance als Staatenlenker der türkischen Republik, die heuer ihr 100-Jähriges Bestehen feiert, beurteilen? War die erste Hälfte von Erdogans Amtszeit von einer Durchlüftung der Gesellschaft, einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und der Annäherung an die EU dominiert, so war die zweite Hälfte von Korruption, innenpolitischer Repression, außenpolitischem Abenteurertum und ökonomischer Malaise geprägt.
Erdogan ist längst kein verlässlicher Partner des Westens mehr, in den Gefängnissen sitzen mehr als 25.000 politische Gefangene ein, die Türkei findet sich auf Platz 149 (von 180) des Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen. Ausländische Investoren ziehen ihr Kapital ab, türkische Staatsanleihen haben ein Junk-Rating, die Lira ist zur Ramsch-Währung verkommen, eine Rekordinflation macht Produkte wie Zwiebel oder Ayran für die einkommensschwachen Schichten zum Luxusartikel.
Doch Erdogan versucht es mit seinen altbekannten Tricks. Er bemüht das Narrativ von einer Türkei voller Glanz und Glorie, eröffnet das erste türkische Atomkraftwerk, präsentiert den ersten Flugzeugträger der türkischen Marine und nimmt am Steuer des ersten türkischen Elektroautos Platz. Erdogan will als Sultan der Gegenwart erscheinen, während sich sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu als bescheidener Mann präsentiert, der in einem Video eine Zwiebel auf dem Tisch liegen hat, anhand derer er das Inflationsproblem erläutert.
Bei einem Wahlsieg von Kilicdaroglu würde ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei aufgeschlagen: Die Bürgerinnen und Bürger der Türkei könnten auf visumfreies Reisen hoffen und der de facto eingefrorenen EU-Beitrittsprozess könnte wieder aus dem Eiskasten hervorgeholt werden.
Die Alternativen, die am 14. Mai in der Türkei zur Wahl stehen, könnten unterschiedlicher nicht sein.