Beim spannenden Rennen um die Parlamentsmehrheit auf Taiwan am Samstag geht es für die Kuomintang (KMT) um alles. Präsident Chen Shui-bian setzte im Wahlkampf auf die Reizthemen "neue Verfassung" und "taiwanesische Identität". Ein Affront gegenüber Peking sei das, warnen die KMT und die Volksrepublik China. Warum im Fall eines Wahlsiegs des Chen-Bündnisses aber kein Krieg mit dem Festland bevorsteht, erklärt der "Wiener Zeitung" der Taiwan-Insider Laurence Eyton.
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Präsident Chen legte sich mächtig ins Zeug. Noch am Freitag versprach er das Festhalten an seinem von Peking heftig kritisierten Plan für eine neue Verfassung 2008. Vehement pochte er im Wahlkampf auf die taiwanesische Identität, der sich laut Umfragen bis zu 60 Prozent der Wähler verbunden fühlen.
Ein "Spiel mit Feuer" sei der Wahlkampf des Präsidenten, warnte die Kommunistische Führung in Peking per Parteiorgan "Volkszeitung". Man werde "um jeden Preis" die Abtrennung Taiwans vom Vaterland verhindern. Diese Drohgebärden sind Wasser auf die Mühlen der KMT. Deren Wahlkampf beschränkte sich in erster Linie darauf, ihre Parlamentsmehrheit als einzige Möglichkeit anzupreisen, den Provokationen Chens gegenüber Peking Einhalt zu gebieten. Ansonsten war die KMT in den letzten Monaten vor allem damit beschäftigt, die knappe Wiederwahl des Präsidenten mit 50,2 Prozent im März anzufechten.
Eine Serie von Niederlagen
Unter ihrem Vorsitzenden Lien Chan wurde die KMT 2000 erstmals abgewählt und musste bei den Parlamentswahlen 2001 herbe Verluste hinnehmen. Die Niederlage im März wollte Lien dann nicht wahrhaben, erläutert Eyton, Chefredakteur der "Taipei Times". Das auf den Präsidenten am Vorabend der Wahl verübte Attentat habe er selbst inszeniert, lautet ein - unbewiesener - Vorwurf. Weiters sei der Wahlgang wegen des gleichzeitig abgehaltenen ersten Referendums auf Taiwan verfassungswidrig gewesen, beharrt die Kuomintang.
Bis zu einem diesbezüglich klärenden Spruch des Obersten Gerichts, der im Frühjahr erwartet wird, bleibt Lien Parteichef, erklärt Eyton. Warum er sich an der Parteispitze festklammert, könne zwei Gründe haben. "Entweder es liegt an Liens übermäßig stark ausgeprägten politischen Ambitionen, oder aber er schafft noch so viel Geld wie möglich ins Ausland", befürchtet der seit 20 Jahren in Taiwan ansässige Journalist. Nicht nur der endgültige Verlust der Macht drohe nämlich im Fall einer Parlamentsmehrheit für Chen, sondern auch die von diesem angekündigte Entflechtung von Staats- und Parteibesitz ließe die KMT-Granden erzittern. Sämtliches japanisches Vermögen auf Taiwan sei nach dem Fall der Insel an die Republik China nach dem Zweiten Weltkrieg von der Kuomintang übernommen worden. Noch 1990 waren diese der drittgrößte Wirtschaftskonzern des Landes.
In Abstimmung mit den USA
Dass der Beistandspakt der USA im Falle eines militärischen Angriffs Pekings nur gelte, wenn dieser "unprovoziert" geschehe, wie der ehemalige Botschafter des KMT-Regimes in Washington, Stephen Chen warnt, wischt Eyton vom Tisch. "Die Regierung Chen lässt jeden eventuell riskanten Schritt vorher von den USA absegnen". Dort werde entschieden, was eine Provokation ist. "Die Fragen zu dem von der KMT und Peking so heftig kritisierten Referendum im März wurden meines Wissens von James Moriarty, dem damaligen Direktor des Nationalen Sicherheitsrats für Asien, verfasst", enthüllt Eyton. Die Gefahr bei einem Sieg für Chen komme weniger aus Peking als vom Oppositionsbündnis selbst, das bereits im März bei der Armee nachgefragt habe, ob diese nicht nach den von ihm selbst initiierten Protesten für Ordnung sorgen wolle, warnt der Journalist.
Bis zuletzt wurde ein knappes Rennen erwartet. Erstmals in der Geschichte Taiwans könnte Chens Lager die Mehrheit im Parlament erringen. Während manche Umfragen ihm bis zu 55 Prozent prophezeien, ist auch keine Mehrheit für beide Seiten plausibel. Das Zünglein an der Waage wären dann die unabhängigen Kandidaten.