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Wie erleben Scharfschützen und Granatwerfer-Trupps den Krieg? Unterwegs mit ukrainischen Soldaten in der umkämpften Stadt Bachmut.
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Die Fahrt nach Bachmut führt vorbei an einer schneebedeckten Hügellandschaft, an Ackerflächen, die sich bis zum Horizont hinziehen und die von Gehölzstreifen gesäumt sind. Doch die Idylle trügt: Auf der Straße fahren Militärfahrzeuge, Humvees, M-113-Schützenpanzer aus US-Beständen und T-72-Kampfpanzer, BMP-1-Schützenpanzer und Kamaz-Militär-Lkw sowjetischer Bauart.
Ein paar Kilometer vor der Stadt hat man einen guten Blick, und von hier aus hört man bereits den Gefechtslärm. Rauchsäulen steigen in den Himmel. Bachmut ist einer der Angriffspunkte der russischen Winteroffensive, die am 24. Jänner mit dem Angriff auf Wuhledar begonnen hat. Heftige Gefechte gibt es auch in Marinka, Awdiiwka, Kreminna, Lyman, Kupjansk. Doch Bachmut ist zum Symbol geworden, seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Stadt am 20. Dezember 2022, dem 300. Tag des russischen Angriffskriegs, besucht hat.
Die Kriegsführung der russischen Armee: Die Stellungen der ukrainischen Armee mit Artillerie aufweichen und dann mit Panzern und Infanterie angreifen und Meter für Meter vorrücken. Das Ergebnis ist ein Stellungskrieg, der oft mehr an den Zweiten Weltkrieg erinnert als an die Kriege des 21. Jahrhunderts.

Der Weg führt zu einem Gefechtsstand der ukrainischen Grenzschutztruppen, einer leichten Infanterie-Einheit, die zu Friedenszeiten für den Grenzschutz verantwortlich war und seit Kriegsbeginn an den Operationen der ukrainischen Armee beteiligt ist - genauso wie die Nationalgarde und der Sicherheitsdienst.
Drohnen liefern ständig neue Informationen
Im Gefechtsstand erklärt Serhij Osatschuk die Lage: Es gibt nur mehr eine einzige noch halbwegs sichere Zufahrtsroute in die Stadt. Seit drei, vier Wochen versuchen die russischen Truppen, diese Straße unter ihre Feuerkontrolle zu bekommen und die Stadt abzuschnüren. Denn nur solange auch der Nachschub in die Stadt funktioniert, kann sie auch verteidigt werden.
Durch die Stadt fließt der Fluss Bachmutka, der auch die Verteidigungslinie der Ukrainer bildet: Die Gebiete östlich des Flusses werden von Russland kontrolliert, die Gebiete am Westufer sind in ukrainischer Hand. Gleichzeitig versuchen die russischen Kommandeure offenbar, die Stadt zu umzingeln, daher haben sich die Kämpfe an den Stadträndern von Bachmut zuletzt intensiviert.
Osatschuk spricht perfekt Deutsch, er ist in der Ukraine als Historiker und Politiker kein unbekannter Mann und ist auch mit Österreich eng verbunden - war er doch einige Jahre österreichischer Honorarkonsul in Tscherniwzi (Czernowitz). Unter Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde er 2019 zum Gouverneur des Gebiets Tscherniwzi, das früher zu Österreich-Ungarn gehört hat, berufen, doch im Sommer 2022 wurde er nach Korruptionsvorwürfen entlassen. Er selbst bestreitet die Vorwürfe, sieht sich als Opfer einer "Polizeimafia" und führt die Korruptionsermittlungen auf einen politischen Konkurrenzkampf zurück, wie er zuletzt auch wieder in einem Interview mit der "Presse" beteuerte. Seit August 2022 trägt Osatschuk - er ist seit dem Jahr 1993 Reserveoffizier - wieder Uniform und seit dieser Zeit ist er in Bachmut stationiert.

Im Gefechtsstand ist es warm, hier leben und arbeiten die Offiziere, die ihren Frontabschnitt beobachten. In Zeiten moderner Kriegsführung heißt das: Es gibt Internet via Starlink (Elon Musks Satellitensystem), auf Großbildschirmen gibt es verschlüsselte Armeekommunikation zu sehen und Luftbilder, durch die die Militärs eine Echtzeit-Lagebeurteilung vornehmen können. Möglich wird das durch Beobachtungsdrohnen, die ständig durch die Luft surren.
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Osatschuk fährt in ein Waldstück, um dort ein Scharfschützen-Team zu treffen: Der Scharfschütze mit dem Kampfnamen Chimik ist bereit, mit Journalisten zu sprechen. Er demonstriert sein Zbroyar-Z-10-Scharfschützengewehr mit Kaliber 7,62 mm aus ukrainischer Produktion, mit dem er untertags auf rund 600 Meter treffen kann. Seine Waffe verfügt auch über ein Nachtsichtgerät und er arbeitet meist nach Einbruch der Dunkelheit. Das Problem: "Feindliche, mit Wärmebildkameras ausgestattete Drohnen können uns auch nachts aufspüren. Das ist die größte Gefahr für uns."
Die Ziele bestimmt er selber, sagt Chimik. Er hat dabei eine Prioritätenliste: Wer bedient ein Maschinengewehr, einen Granatwerfer, wer könnte Kommandeur einer Truppe sein? "Welt"-TV Chefkorrespondent Steffen Schwarzkopf - der Kollege, der neben der "Wiener Zeitung" heute mit Osatschuk unterwegs ist - fragt den Scharfschützen, ob er denn Statistik über seinen Bodycount führe, ob er wisse, wie viele Ziele er schon ausgeschaltet hat. Doch das will der Soldat nicht preisgeben. "Diese Information bleibt geheim. Ein echter Scharfschütze hat eine Berufsethik, und ich folge dieser. Niemand wird ihnen die Wahrheit sagen, ich zähle jeden Treffer, aber das sage ich nur meinem Befehlshaber, kein Scharfschütze wird ihnen das erzählen, das behalten wir für uns."
Aber wie ist es, Menschen durch das Zielfernrohr zu sehen, abzudrücken und zu töten? "Meine Emotionen habe ich abgeschaltet", sagt Chimik, "wenn ich einen Schuss abfeuere, dann ist das so, als würde ich eine SMS-Textnachricht schicken." Er dient seit zehn Jahren als Scharfschütze bei den Grenzschutztruppen und ist nun seit achteinhalb Monaten in Bachmut stationiert. Auf die Frage der "Wiener Zeitung", wie er seinen derzeitigen Einsatz einschätzt: "Ich war in der gesamten Ukraine auf Missionen, aber das hier in Bachmut ist die schwierigste Aufgabe, die ich je hatte."
Es geht weiter, zu einer Granatwerfer-Position: Der Granatwerfer wird eingerichtet, drei Granaten werden bereitgemacht und dann in rascher Folge abgefeuert. Jedes Mal folgt ein ohrenbetäubender Knall.
Dann heißt es: Schnell in den nahegelegenen Schutzkeller, denn es droht Gegenfeuer. Im Keller ist es warm, nur eine kleine LED-Leuchte erhellt den Raum. Die Männer der Granatwerferkompanie erzählen von ihrem Kriegshandwerk: Sobald die Luftaufklärung und ihre Flugdrohnen-Spezialisten Ziele in Reichweite erkannt haben, macht sich der Trupp an die Arbeit. Der Granatwerfer wird an einer möglichst gut geschützten Stelle positioniert und auf das Ziel eingerichtet, dann werden die Granaten abgefeuert. Mit ihren Granatwerfern können die Soldaten Ziele bis zu 3,5 Kilometer Distanz bekämpfen. "Größere Distanzen erlaubt das Kaliber dieser Waffe nicht", sagen sie. Auf die Frage, ob sie nicht Angst hätten, antwortet einer der Soldaten: "Nach einem Jahr im Einsatz habe ich mich daran gewöhnt. Manchmal, wenn wir heftig beschossen werden, ist es mir nicht gelungen, die Angst wegzudrücken, aber - alles stabil, ich bin zuversichtlich."
Die nächste Station: eine neuralgische Kreuzung, die nahe der Feuerlinie der russischen Truppen liegt. Zerschossene Autowracks, Panzersperren, verwüstete Gebäude. An dieser Kreuzung haben die Grenzschutzsoldaten ein paar Kameraden verloren.
Freiwillige Helfer aus Moldawien bringen Essen
Hinter einem teilweise zerstörten Haus leben noch weitere Menschen. Herr Alexander zum Beispiel. Er zeigt die Zerstörungen im Hof seiner Siedlung. "Kommen Sie mit, kommen Sie mit", sagt er nur und gestikuliert. Hier sei eine Rakete niedergegangen, dort eine Granate, noch eine hier, und die hier - Alexander deutet auf eine Metallbox, aus der Gurren tönt - habe den halben Taubenschlag seines Nachbarn ausgelöscht.
Wie er denn hier überleben kann? Freiwillige Helfer aus Moldawien würden Essen bringen, Trinkwasser hole er von einem Brunnen. 60 Jahre sei er jetzt alt. Sein Leben lang habe er gearbeitet, "ich habe nie etwas gestohlen, habe gespart, so viel ich konnte, und trotzdem habe ich kein Geld", sagt er.

In manchen Teilen der ukrainischen Gesellschaft gibt es Misstrauen gegenüber jenen, die noch in Städten wie Bachmut sind: Wenn man von den russischen Truppen beschossen wird und dennoch bleibt - warten die Leute auf jemanden, warten die Leute gar auf die Russen? Oder wollen sie einfach nicht ihr Zuhause verlassen und wissen nicht wohin?
Zwei ältere Bewohner von Bachmut marschieren die verschneite Straße entlang. Einer zieht einen Leiterwagen hinter sich her, eine ältere Frau, wohl an die 70, schiebt ihr Fahrrad. Fragen wollen die beiden nicht beantworten, sie winken nur ab und marschieren weiter durch den Schnee.
Mitarbeit: Alex Babenko und <span>Yevhen Titov</span>
Korrekturhinweis: Elon Musks Satellitenkommunikationssystem wurde fälschlicherweise als "Skylink" bezeichnet, das System trägt aber den Namen "Starlink". Der Fehler wurde am 21.02.2023 um 19:48 korrigiert.