Das Plakat zeigt einen von Saddam Husseins Panzern vor dem schwer beschädigten Tor eines schiitischen Heiligtums. Es trägt die Botschaft: "Damit dies nie wieder geschehen kann, nehmt an der Wahl teil!" Das Plakat gehört zum Wahlkampf der Kandidatenliste, die die Unterstützung des obersten schiitischen Geistlichen im Irak genießt, des Großayatollahs Ali al-Sistani. Während die meisten Sunniten im Irak die Abstimmung wohl boykottieren werden, arbeiten viele Schiiten engagiert daran, die Mehrheit in der 275 Sitze zählenden neuen Nationalversammlung zu gewinnen.
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Zur Bevölkerungsgruppe der Schiiten zählen 60 Prozent der etwa 25 Millionen Iraker. Das neue Parlament (Nationalversammlung) soll das Land elf Monate regieren und eine Verfassung ausarbeiten. Die 228 Mitglieder zählende, von Sistani unterstützte Vereinigte Irakische Allianz wird das Parlament voraussichtlich dominieren. Sie vertritt 16 Gruppierungen, darunter die größte schiitische politische Vereinigung, den Obersten Rat für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI) und den Irakischen Nationalkongress (INC) von Ahmed Chalabi. Auf der Liste stehen auch 32 Sunniten.
Eine weitere wichtige Fraktion ist die 233 Mitglieder zählende Irakische Liste, die von Übergangsministerpräsident Iyad Allawi angeführt wird. Allawi setzt auf sein Image als starker Mann, der die Sicherheit der Bevölkerung gewährleistet. In Fernsehspots und auf Pressekonferenzen versichert er immer wieder, dass er die Aufständischen bekämpfen werde, bis sie besiegt seien.
Sistani, der mächtigste und angesehenste Geistliche der Schiiten, hat es als religiöse Pflicht jeden Mannes und jeder Frau bezeichnet, zur Wahl zu gehen. Es wird erwartet, dass sich die Mehrheit der Bevölkerungsgruppe an seine Empfehlung hält. Ganz anders die Sunniten, die mit 20 Prozent die größte Minderheit im Irak stellen. Viele von ihnen, darunter auch Geistliche, haben unter Verweis auf die Sicherheitslage eine Verschiebung der Wahl gefordert. Darüber hinaus machen sie geltend, dass das Land de facto unter US-Besatzung stehe. Die meisten schiitischen Politiker und Geistlichen sehen Wahlen aber gerade deshalb als nötig an, damit eine rechtmäßig gewählte Regierung über den Abzug der ausländischen Truppen verhandeln könne.
"Wir leben in einem Land mit einer schlechten Sicherheitslage, deshalb ist die Wahl nötig", sagt Maitham Faisal, ein Berater Sistanis. "Die Wahl kann nicht verschoben werden, weil das zu einem politischen und rechtlichen Vakuum führen würde. Wir sind ein Land unter Besatzung." Der SCIRI-Vorsitzende Abdelaziz al-Hakim sagt, falls die Schiiten die Mehrheit errängen, seien sie bereit, die Macht mit den Sunniten zu teilen. "Wir wollen einen Irak, der die Freiheiten schützt, einen demokratischen Irak für alle Iraker, der die islamische Identität des irakischen Volks respektiert." Der radikale Schiiten-Prediger Muktada al-Sadr, der gegen Wahlen ist, so lange ausländische Truppen im Land sind, hat seinen Anhängern die Teilnahme freigestellt.
Im überwiegend schiitischen Süden des Irak und im Bagdader Stadtviertel Sadr City laufen die Wahlvorbereitungen unterdessen auf Hochtouren. Plakate und Fahnen zieren die Straßen, und Prediger in Moscheen und schiitischen Gemeindezentren fordern die Menschen zur Stimmabgabe auf. Theologiestudenten in der den Schiiten heiligen Stadt Najaf wurden Anfang Jänner vorzeitig in die Ferien geschickt, um die Menschen in ihren Heimatstädten über die Wahl zu informieren.
"Die Vereinigte Irakische Allianz ist die Hoffnung der Liberalen", heißt es auf einem Banner an der Wand einer Schule in Sadr City. Eine Wand an einer Polizeiwache im selben Viertel zieren Plakate Sistanis mit der Aufschrift "Nicht an Wahlen teilzunehmen heißt, dass eure Kandidaten weder eure Religion noch euer Leben verteidigen können".