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Schirm gegen Zaunpfahl

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Die Nato-Staaten wollen sich via Schutzschirm gegen Moskau wappnen. Das ist so logisch wie folgenreich.


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Die Krux der atomaren Ära: Maximale Sicherheit für die eine Seite potenziert das subjektive Gefährdungspotenzial der anderen Seite. Das macht alles Streben nach verlässlichen Schutzschirmen schon in normalen Zeiten so kompliziert und das taktisch motivierte Säbelrassen noch schwieriger unter Kontrolle zu halten.

Moskaus hartnäckiges Winken mit dem nuklearen Zaunpfahl gegen Kiew und den Westen zielt vorderhand darauf ab, die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine einzuhegen - eben aus Furcht vor einer nuklearen Eskalation. Tatsächlich haben die Nato-Staaten bis dato penibel abgewogen, welche Waffen sie für welche Zwecke an die Ukraine liefern. Doch mit jedem Raketenangriff auf zivile Ziele durch Moskau steigt auch die westliche Bereitschaft, Kiew immer wirkungsvolleres Gerät zur Verteidigung zur Verfügung zu stellen.

Die zweite konsequente Folge russischer Drohungen mit dem Einsatz nuklearer Waffen, selbst wenn diese nicht wirklich ernst gemeint sein sollten, besteht im Hochfahren der eigenen Verteidigungsbereitschaft. Am Donnerstag haben sich die Nato-Staaten in Brüssel getroffen und vereinbart, ein gemeinsames Luftabwehrsystem errichten zu wollen. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat diese Absichtserklärung noch durch die Beteuerung untermauert, die USA würden "jeden Zentimeter" des Nato-Territoriums verteidigen. Ein höherer russischer Diplomat rundete dieses Tableau mit dem Hinweis ab, eine Nato-Aufnahme der Ukraine "könnte in den Dritten Weltkrieg münden".

Der ausdrücklich gegen Moskau gerichtete Raketenschutzschirm der Nato wird, wenn der Krieg und die Krise nicht bald überwunden werden, noch mehr Anstrengungen des Kreml nach sich ziehen, diesen zu unterlaufen, um die eigene nukleare Abschreckung intakt zu halten. Willkommen zurück im atomaren Wettrüsten.

Es wäre fahrlässig, solche Ankündigungen, Absichtserklärungen und Wenn-dann-Eventualitäten als bloße Droh-Rhetorik abzutun. Kriege passieren mitunter einfach so. Realistisch betrachtet, hat noch keine Seite die roten Linien der jeweils anderen überschritten oder denkt daran, diese zu überschreiten. Für Russland wäre dies die direkte Einmischung der Nato in den Ukraine-Krieg, für die Nato ein Angriff Moskaus auf ihr Territorium oder ihre Versorgungslinien. So lange weder das eine noch das andere geschieht, ist eine nukleare Eskalation dieses Kriegs nach menschlichem Ermessen unwahrscheinlich. Wahrscheinlichkeit ist das alles, was es an Gewissheit zu bieten gibt; mehr ist nicht zu haben.