Eine US-Resolution sorgt für Unmut zwischen Ankara und Washington. Es geht um das Wort "Völkermord".
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Wenn Alex armenisch spricht, ist sein Akzent amerikanisch. Immerhin hat der in Syrien geborene Mittzwanziger den Großteil seines Lebens in Kalifornien verbracht. Und wenn er große Begriffe verwendet wie "Heimat" oder "Liebe", dann tut er das auch mit einer Leichtigkeit, die an einen jungen unbekümmerten Amerikaner denken lässt. Doch er sagt: "Hier ist der einzige Ort, wo ich mich wirklich als Armenier fühlen kann" - und meint damit nicht die USA, sondern Armenien. "Hier" ist für ihn Eriwan, wo er an einem Forschungsprojekt über die Wirtschaftskrise im Südkaukasus arbeitet.
Allerdings fasst Alex das Land seiner Vorfahren weiter auf als die kleine ehemalige Sowjetrepublik reicht. Seine Familie stammt aus dem Gebiet der heutigen Türkei; seine Verwandten wurden wie Millionen andere während des Ersten Weltkriegs vertrieben. Die armenische Diaspora umfasst wohl mehr Menschen als die rund drei Millionen Einwohner Armeniens. Eine der größten Gruppen lebt in den USA.
Was sie mit vielen anderen Armeniern weltweit eint, sind Sprache und Religion - und die Erinnerung an ihre Toten und ihr verlorenes Land. Die Geschichten über Morde, Hunger und Verluste erzählen Eltern ihren Kindern, Großeltern ihren Enkeln. Was 1915, als das Osmanische Reich zerfiel, passiert ist, hat für sie einen Namen: Völkermord.
Dass dies auch andere Staaten anerkennen, dafür machen unterschiedliche Lobbying-Gruppen Druck. Belgien hat es schon getan, ebenso Italien oder Frankreich. Und jedes Mal ließ eine Reaktion aus der Türkei nicht lange auf sich warten: Ankara verurteilte die Anerkennung. Denn die offizielle Türkei will das Wort Völkermord nicht gelten lassen, spricht stattdessen von Kriegshandlungen, bei denen Menschen auf beiden Seiten umgekommen seien. Die Zahlen der getöteten Armenier - viele Historiker nennen 1,5 Millionen - seien übertrieben.
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Mit Warnungen sparte Ankara auch heuer nicht, als einmal mehr in den USA debattiert wurde, die Massaker von 1915 als Völkermord zu bezeichnen. Gestern, Donnerstag, befasste sich der außenpolitische Ausschuss des Repräsentantenhauses mit einer entsprechenden Resolution. Im Plenum ist eine solche noch nicht behandelt worden.
Schon drohte die Türkei ihrem Nato-Partner USA mit der Stornierung von Rüstungsprojekten im Wert von Milliarden US-Dollar, was für Nervosität in der betroffenen Industriesparte sorgte. In einem ungewöhnlichen gemeinsamen Brief forderten Konzerne wie Lockheed Martin, Boeing oder United Technologies die Abgeordneten auf, von einer Annahme der Resolution abzusehen. Die Anerkennung des Genozids würde einen wichtigen Handelspartner vergrämen - und amerikanische Arbeitsplätze gefährden, wenn die Exporte abnehmen.
Selbst Außenministerin Hillary Clinton griff zum Telefonhörer und bat den Ausschussvorsitzenden um Vorsicht. Präsident Barack Obama wiederum rief den türkischen Staatschef Abdullah Gül an, um auf eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und ihrem Nachbarn Armenien zu drängen.
Auf der anderen Seite stehen armenische Lobbyisten, die US-Kongress und Regierung mit dem Hinweis auf Wählerstimmen überzeugen wollen, der "Leugnung des Völkermords" ein Ende zu setzen.
Der Türkei wiederum geht es nicht nur um Definitionen, sondern auch um ökonomische Interessen. Würde sie die Ereignisse von 1915 offiziell als Völkermord bezeichnen, müsste sie mit Entschädigungsforderungen der Kinder und Enkel von Vertriebenen rechnen.
Alex, der in Syrien geborene und in Amerika aufgewachsene Armenier, spricht aus, was viele denken: Mit der Anerkennung des Genozids allein sei es nicht getan. Die Türkei müsste auch Land zurückgeben - oder die ehemaligen Besitzer mit Geld entschädigen.