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Schlafende Riesin

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik
Während die Politik nach dem Brexit-Votum in Deckung geht, fordern andere ein klares Wort des Parlaments - bisher vergebens.
© reu/Martinez

Spielt die britische Volksvertretung keine Rolle mehr? Oder könnten die Abgeordneten den Brexit stoppen?


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London. Im Auge des Brexit-Sturms schläft eine Riesin. Die "Mutter der Parlamente" rührt sich nicht. Mögen Regierungen stürzen, die beiden großen Parteien sich zerfleischen, die Britischen Inseln auf den Atlantik hinaus treiben: Der Palast von Westminster lässt alles kommentarlos geschehen. Keine Stimme dringt dieser Tage aus dem Innern an die Öffentlichkeit.

Höchstens die des Labour-Abgeordneten für Tottenham, David Lammy. "Mensch, wacht auf!", rief er nach dem Referendum seinen Mitparlamentariern zu. "Wir müssen das ja nicht tun. Noch können wir diesen Wahnsinn stoppen und diesem ganzen Albtraum ein Ende setzen." Wie? "Mit einem Parlamentsentscheid." Die Volksabstimmung habe schließlich nur empfehlenden, keinen bindenden Charakter, erklärte Lammy. Bevor man die eigene Wirtschaft zerstöre "auf der Basis von Lügen" und der "Hybris" gewisser Politiker, müsse Westminster sich eines Besseren besinnen: "Jetzt muss das Parlament darüber befinden, ob wir diesen Brexit-Weg weitergehen sollen."

Die Reaktion der Anti-EU-Partei Ukip, des Tory-Lagers und der Rechtspresse der Insel auf diesen einsamen Appell war abzusehen. Lammy "träume" wohl, wenn er sich gegen den "Volkswillen" auflehnen will, war der Konsens. Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn beeilte sich, das Referendums-Resultat als bindend anzuerkennen, kaum dass das Ergebnis verkündet war. Ihm persönlich, seiner Antipathie zur EU, kam dieses Ergebnis durchaus recht.

Einen unmittelbaren "Re-Run" des Referendums, wie ihn Online-Petitionen fordern, wagt denn auch kein Politiker auf die Tagesordnung zu setzen. Dabei liegt Lammy verfassungsrechtlich gar nicht falsch. Die Volksabstimmung war, streng genommen, wirklich nur eine Empfehlung - und kein "souveräner Entscheid" der britischen Bevölkerung. Denn der einzige Souverän im Vereinigten Königreich ist das britische Parlament.

Maßgeblich ist, was das Parlament beschließt und entscheidet. Volksabstimmungen sind kein Bestandteil der "Verfassungstradition". Eine schriftlich fixierte Verfassung, wie in anderen Ländern, gibt es ja nicht. Nachkriegspremier Clement Attlee hatte einst erklärt, kein politisches "Verfahren" sei "unseren Traditionen so fremd wie ein Referendum, das allzu oft das Instrument des Nazismus und Faschismus gewesen ist".

Wie betäubt

In der Tat ist das Mittel der Volksabstimmung in früheren Zeiten auf der Insel nur sehr selten benutzt worden. 30 Jahre nach Attlees Diktum, im Jahr 1975, ließ Harold Wilson zum Beispiel über die EWG-Mitgliedschaft abstimmen - übrigens auch nur, um seine auseinanderdriftende Partei zusammenzuhalten, wie später David Cameron.

Großbritanniens prominentester Bürgerrechts-Anwalt Geoffrey Robertson geht in der Debatte sogar einen Schritt weiter: Die britische Demokratie erlaube gar keine Beschlussfassung per Referendum, sagt Robertson. Diese Kompetenz habe nur das Parlament. Und wenn man dem jüngsten Referendum schon ratgebenden Charakter zusprechen wolle, dann habe das Resultat ja wohl kaum einen klaren "Volkswillen" zum EU-Austritt zum Ausdruck gebracht, sondern nur offenbart, dass das Land in der EU-Frage zutiefst gespalten sei.

So freimütig wagt von den Westminster-Politikern - bis jetzt - außer Lammy keiner zu argumentieren. Denn das EU-Referendum hat, im Trubel dieser Tage, ein politisches Eigenleben angenommen. Geradezu betäubt von diesem "historischen Ereignis" sitzen etwa 480 pro-europäische und 120 anti-europäische Abgeordnete derzeit auf ihren Bänken im Unterhaus. Im Oberhaus sollen auf einen EU-Gegner sogar sechs Pro-EU-Lords und -Ladies kommen.

Sobald das Parlament aber aus seiner gegenwärtigen Lähmung erwacht, könnte die Schlacht um den Austritt noch spannend werden: Möglicherweise ist schon die Kündigung der EU-Mitgliedschaft durch die Regierung, also die Inanspruchnahme des notorischen Paragrafen 50, an einen Parlamentsentscheid gekoppelt.

Das Parlament muss jedenfalls, um seine Zustimmung zur Abkoppelung von der EU zu geben, das Gesetz zur Europäischen Gemeinschaft von 1972 aufheben, mit dem Großbritannien sich seinerzeit der EWG anschloss. Theoretisch bietet sich hier ein erstes parlamentarisches Veto an.

Sodann müssen all die ins britische Recht übernommenen EU-Gesetze und Direktiven, die man wieder tilgen will, Stück für Stück aus dem britischen Rechtskodex entfernt werden. Hier prophezeien die Experten eine jahrelang Grabenschlacht, wie man sie zuletzt beim zähen Kampf um den Lissabonner Vertrag, zur Zeit John Majors, erlebt hat.

Im Vergleich zu Lissabon würde der EU-Austritt freilich eine parlamentarische und administrative Arbeit von ungeheurem Umfang und mit vielerlei Fallstricken erforderlich machen. Und bei der Vorbereitung eines Austrittsvertrags mit der EU könnte das Parlament Bedingungen stellen, wie zum Beispiel Zugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt oder die Wahrung der Union mit Schottland, die keineswegs gesichert ist. "Unzählige Gelegenheiten zum Filibustern und Verzögern bieten sich da an", meint Patrick Wintour, Experte für internationale Fragen des Londoner "Guardian". Schließlich muss auch der Austrittsvertrag selbst vom Parlament genehmigt werden.

Neuwahlen als Lösung

Die "sauberste" Lösung für all jene, die immer noch auf einen Verbleib in der EU hoffen, wären freilich Neuwahlen. Liberaldemokraten und schottische Nationalisten haben bereits signalisiert, dass sie eine Umkehrung des Brexit-Beschlusses in ihre Wahlprogramme aufnehmen wollen. Die Grünen haben darüber hinaus eine "Pro-EU-Allianz" zum Sieg über die konservativen Tories und die rechtspopulistische Ukip bei solchen Neuwahlen vorgeschlagen. Vor allem aber würde die Labour Party eine solche Initiative brauchen, die zurzeit auf fatale Weise mit sich selbst beschäftigt ist. Würde sie mit einem klaren Wir-bleiben-in-der-EU-Programm den Urnengang gewinnen, hätte sie ein frisches politisches Mandat, mit dem der Referendumsbeschluss dieses Sommers neutralisiert wäre.