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Ein knappes halbes Jahr nach dem Brexit-Beschluss herrscht noch immer Ratlosigkeit in der Regierungszentrale.
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London. Verblüfft schauen die Briten hinüber "nach Europa". Nicht nur im eigenen Land, auch jenseits ihrer Küsten rumort es überall. Vielen auf der Insel kommt es vor, als sei der Brexit-Paukenschlag dieses Sommers zum Auftakt für populistische Aufstände und neue Ungewissheiten allerorten geworden. Und das über Europa hinaus.
Schmückte sich nicht Donald Trump mit dem Namen "Mr .Brexit"? Nannte der künftige US-Präsident seine "Revolution" nicht "Brexit plus plus plus"? Dabei haben sich die Briten vom eigenen Schock noch gar nicht erholt, in diesem Winter. Das Land ist tief gespalten, was den Austritt aus der EU betrifft.
Das 52-zu-48-Prozent-Referendum hat, in diesem Sinne, keine Lösung geliefert. Unter den Brexiteers selbst hat sich außerdem ein bitterer Streit um die Frage entwickelt, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Das abzuklären, hatten die Konservativen seinerzeit vergessen. Entsprechende Konfusion herrscht heute in Theresa Mays Kabinett.
Den Außenminister Mays aber, Boris Johnson, der eigentlich einen Kurs vorgeben müsste, nimmt im Urteil britischer Medien "niemand richtig ernst" in der internationalen Szene. Ausgerechnet der Mann, der als entscheidender Brexit-Wortführer alle Zuwanderung vom Kontinent radikal einzudämmen gelobte, soll kürzlich EU-Botschaftern in London anvertraut haben, er sei im Grunde für totale Freizügigkeit in Europa. Auch im Foreign Office rauft man sich die Haare über Johnsons schillernde Persönlichkeit.
Kein Wunder, dass Premierministerin May wenig Schlaf findet, in diesen Nächten. Die "enorme Herausforderung" des britischen Austritts aus der EU hält sie, nach eigenem Geständnis, häufig wach. Und das liegt nicht nur an Trump und Johnson. May steht unter enormem Druck, unter direktem Entscheidungszwang.
Albtraum Brexit nicht verkraftet
Denn die Regierungschefin hat sich und der EU in Sachen Brexit eine Frist gesetzt. Spätestens Ende März nächsten Jahres will sie per Artikel 50 des Lissaboner Vertrags die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Union in aller Form aufkündigen und so die Austrittsverhandlungen mit Brüssel in Gang setzen. Das lässt für Vorbereitungen nicht viel Zeit.
Zumal es nach Experten-Einschätzung in London an tausenden Fachleuten fehlt, wie sie zur Brexit-Umsetzung gebraucht würden. Im Grunde seien 30.000 zusätzliche Staatsbeamte vonnöten, hat das Beratungs-Unternehmen Deloitte in einem vertraulichen Memo notiert.
Allein die Juristen der diversen Ministerien, die sich zurzeit durch zehntausende Seiten mit EU-Direktiven und Regulationen aus mehr als 40 Jahren kämpfen, sind offensichtlich total überfordert. "Whitehall (das Regierungsviertel) verkraftet den gesetzlichen Albtraum des Brexit nicht", zitierte die konservative Londoner "Times" kürzlich skeptische Insider. In einer anderen "Times"-Schlagzeile hieß es: "Brexit-Pläne lösen Chaos und Verwirrung aus."
Die Verwirrung ist, ein knappes halbes Jahr nach dem britischen EU-Referendum, nicht geringer geworden, als sie es am Morgen nach der Stimmenauszählung war. Verstärkt wird die Ungewissheit durch das beharrliche Schweigen der Regierungschefin. Bisher hat sich Theresa May hinter der Formel "Brexit means Brexit", Brexit bedeutet Brexit, verschanzt - und erklärt, dass sie "keinen laufenden Kommentar" zu diesem Thema abgeben will.
In ihrem bislang einzigen konkreten Fingerzeig hat sie allerdings zu erkennen gegeben, dass sie eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit nach dem Brexit-Votum für unerlässlich hält. Und dass sich London dem Europäischen Gerichtshof nicht länger beugen wolle. Was eigentlich einen "harten Brexit", einen Ausstieg auch aus EU-Binnenmarkt und Zollunion, signalisiert.
Andererseits will May der Wirtschaft ihres Landes "den bestmöglichen Deal" mit der EU verschaffen. Eine "maßgeschneiderte Lösung" für ihr Land, sagt sie, erhoffe sie sich. Wie sie das anstellen will, darüber wird auch in London gerätselt, solange ein EU-Regierungschef nach dem anderen beteuert, am Prinzip der Freizügigkeit sei nicht zu rütteln. In Downing Street hofft man immer noch, einen Kompromiss aushandeln zu können - egal, was "die Europäer" zurzeit sagen.
Erste Zeichen dafür, dass man in der Londoner Regierungszentrale vom "harten Brexit" vorsichtig abzurücken sucht, hat es in den vergangenen Tagen gegeben. Am deutlichsten war die Erklärung des Brexit-Ministers und konsequenten Austrittsbefürworters David Davis, man könne sich an der Themse durchaus vorstellen, zwecks weiteren Zugangs zum Binnenmarkt gewisse Beiträge an die EU-Kasse abzuführen.
Immerhin hatte Davis nach dem Referendum noch gesagt, wegen der erforderlichen Zuwanderungskontrollen sei es "äußerst unwahrscheinlich", dass Großbritannien dem Binnenmarkt post Brexit weiter angehören werde. Nun will er sogar dafür sorgen, dass es der heimischen Wirtschaft, wo immer nötig, weder an hochqualifizierten noch an ungeschulten Arbeitskräften aus der EU fehlt.
Schatzkanzler Philip Hammond, der wie Theresa May ursprünglich für den Verbleib in der EU plädiert hatte, stellte sich nach dessen Bekundungen sofort an Davis Seite. Schon sehen Beobachter einen ersten "Willen zum weichen Brexit", zur weiteren engen Verzahnung mit der EU. Die Idee ist offenbar, für einzelne Branchen oder Dienstleistungs-Lizenzen zu bezahlen und nicht pauschal, wie andere angeschlossene Staaten. Und ein bisschen Kontrolle über den künftigen Zuzug hoffen sich May, Davis und Hammond ebenfalls auszuhandeln.
Neues Referendum 2018?
Auch die zunehmend diskutierte Frage, ob sich vielleicht ein Übergangsvertrag mit der EU schließen lasse, um auf ein paar Jahre hin mehr oder weniger den Status quo zu wahren, weist in diese Richtung. Theresa May selbst hat dem heimischen Finanz- und Wirtschaftssektor versichert, sie werde niemanden "an eine abschüssige Klippe" führen, was das künftige Verhältnis zur EU betrifft.
Brexit-Hardliner reagieren gereizt auf solche Worte. Schon mahnt die Tory-Rechte die Regierung unter Berufung auf das Ergebnis des Referendums, den "Volkswillen" nicht zu missachten und keinen "Verrat" zu begehen. Auch Ukip und die Rechtspresse schlagen Alarm.
Ist auf May, fragen sie, Verlass in Sachen Brexit? Die kompromisslosen EU-Gegner wollen keine Übergangslösung, keine weiteren Zahlungen an die EU, und vor allem keine Zugeständnisse in Sachen Einwanderungskontrolle. Sie fordern den totalen und sofortigen Bruch mit der EU.
In gewisser Weise spiegeln sich in Mays Dilemma widersprüchliche Erwartungen ihrer Landsleute. Einer Umfrage des Nationalen Zentrums für Sozialforschung zufolge wünschen sich 90 Prozent aller Briten freien, ungehinderten Handel mit den EU-Staaten. Zugleich wollen 70 Prozent aber auch unbedingt den Zuzug von EU-Arbeitsmigranten auf die Insel einschränken. Sogar unter denen, die im Juni für Verbleib in der EU stimmten, sind es 55 Prozent.
Prominente EU-Sympathisanten scheinen sich indes erholt zu haben und melden sich jetzt nach und nach wieder zu Wort. Die Ex-Premierminister Tony Blair und Sir John Major etwa haben sich zu Fürsprechern einer Neubefragung der Nation zum Abschluss der Austrittsverhandlungen, vielleicht im Jahr 2018, gemacht.
Liberale, Grüne, einzelne Labour-Leute und sogar ein paar trotzige Konservative wollen sich ebenfalls die Möglichkeit eines späten Ausstiegs aus dem Ausstieg vorbehalten. Im Augenblick betrachten es die meisten von ihnen aber, wie die Schottischen Nationalisten, als vorrangig, einen "harten Brexit" zu vermeiden und alle Kanäle zur EU offen zu halten. Bessere Chancen, einen Brexit noch ganz abzuwenden, sehen sie für den Fall eines Stimmungsumschwungs in der weiteren Bevölkerung voraus.
Noch ist ein solcher Stimmungsumschwung nur punktuell auszumachen. Bei einer parlamentarischen Nachwahl im Londoner Stadtteil Richmond diese Woche stimmten immerhin auch viele konservative Wähler für Sarah Olney, die durch und durch pro-europäische Kandidatin der Liberaldemokraten.
Auch traditionelle Labour-Wähler gaben zuhauf Olney ihre Stimme, die freimütig bekannte, dass sie den Brexit-Beschluss gern "umkehren" würde. Hoffnungsvoll spekulierte die in Richmond siegreiche Seite, dass dies womöglich der Beginn eines "progressiven Bündnisses" gegen "Nationalismus und Rechtspopulisten" sei.
Klippensprung Brexit
Ein wirklicher Stimmungsumschwung in Großbritannien wäre freilich nur zu erwarten, wenn sich Wirtschaftslage und Lebensverhältnisse durch den Brexit dramatisch veränderten. Und bisher haben sich die düsteren Voraussagen des Sommers nicht erfüllt.
Produktion und Konsum haben in den letzten Monaten alle Erwartungen übertroffen. Einbrüche hat es nirgends groß gegeben. Sogar das anfangs abgesackte Pfund hat sich in jüngster Zeit wieder etwas erholt.
Für 2017 allerdings, darin sind sich fast alle Ökonomen einig, stehen den Briten härtere Zeiten ins Haus. Die Schatzkanzlei rechnet mit mindestens 60 Milliarden Pfund an Brexit-Verlusten bis 2020. Vor allem ärmeren Haushalten - von denen viele für Brexit stimmten - drohen schwere finanzielle Einbußen. Die private Verschuldung im Königreich über Kreditkarten und Darlehen hat sich schon jetzt gegenüber dem Vorjahr um mehr als 10 Prozent erhöht.
Unternehmen machen sich zur Drosselung von Investitionen bereit und Finanzinstitute zum Abzug aus London. Eine "weiche Landung", ohne Sprung über die Klippe, könnte den Schaden begrenzen, argumentieren die Gegner eines "harten Brexit". Die Frage ist, wie die Premierministerin ihren Brexiteers einen solchen Kurs erklären würde, ohne selbst unter die Räder zu kommen. Das fragt sich Theresa May in ihren schlaflosen Nächten wohl auch.