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Die Betroffenen hassen es. Sie wollen nichts essen, sie tun es aber trotzdem. Während sie schlafen. Wie ferngesteuert tapsen sie zum Kühlschrank und verschlingen, was gerade da ist: Gefrorene Fischstäbchen, Speck mit Mayonnaise und Berge von Schokolode. Am Tag danach erinnern sie sich entweder gar nicht oder nur bruchstückhaft. Der Leidensdruck ist groß: Selbsthass, Depressionen, eklatante Gewichtszunahme. NSRED (Nocturnal Sleep Related Eating Disorder) heißt das Ganze.
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Ein komplexes Phänomen, irgendwo zwischen Schlaf- und Ess-Störung, bislang kaum erforscht. Man nimmt an, dass die Betroffenen während der NSRED-Episoden - ähnlich den Schlafwandlern - nicht bei Bewusstsein sind. Einige Gehirnteile dürften aktiv sein, andere scheinen zu ruhen - der Grund dafür, dass später die Erinnerung an die nächtliche Ess-Orgie komplett oder teilweise fehlt.
Wie viele sind betroffen?
Die Ursache ist dabei ebenso unklar wie die Anzahl der Betroffenen. In den USA sollen es um die drei Millionen sein, für Österreich gibt es noch keine Zahlen. In der AKH-Schlafambulanz berichtet man lediglich von einer Handvoll an Leuten, die sich deshalb in den vergangenen Jahren gemeldet hätte. Die Dunkelziffer könnte freilich weit höher sein, meint Lea Montgomery von der Texas Christian University (USA) im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Denn viele würden sich einfach genieren, darüber zu sprechen. Und jene, die sich ein Herz nehmen und einem Mediziner anvertrauen, seien oft enttäuscht.
"Da gibt es eine Menge Fälle, wo sich der Arzt nur lustig gemacht hat." Dabei: Die Verzweiflung ist groß. So groß, dass Betroffene zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen, um sich von den ungewollten Ess-Attacken abzuhalten: Die einen verbarrikadieren sich im Schlafzimmer, andere verstauen das im Haus vorhandene Essen im Kofferraum ihres Autos oder bitten Freunde - gegen Bezahlung - in der Nacht den Kühlschrank zu bewachen. "Den ungewöhnlichsten Fall von Selbsthilfe hatte ich erst kürzlich. Eine junge Frau erzählte mir, wie sie sich von ihrer Wohnungskollegin jede Nacht mit Handschellen ans Bett fesseln ließ", so Montgomery, die sich seit 1998 mit NSRED beschäftigt.
In den vergangenen zwei Jahren hat sie mehr als hundert E-Mails von Betroffenen aus aller Welt - in der Mehrzahl übrigens Frauen - erhalten. Sukkus: "Unendliche Erleichterung, dass ihr ungewöhnliches Problem einen Namen bekommen hat." Und gibt es eine Lösung? Jein. Jeder Fall ist unterschiedlich, sagt Montgomery. Manchen Patienten sei rasch geholfen, etwa mit einer Umstellung des Schlaf- und Ess-Rhythmus. Andere wiederum sprechen nur auf Medikamente, z.B. Antidepressiva, an.
Und dann gebe es eine dritte Gruppe, die weder auf das eine noch das andere ansprechen. "Außenstehende tun sich meist schwer, dieses Phänomen zu verstehen", resümiert sie. "Aber glauben Sie mir, für die Betroffenen ist es der reine Horror."