Mindestens acht Tote, 17 Verletzte. | Russischer Innenminister: "Die Lage ist stabil."
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Es war der zweite große Schlag gegen Ramsan Kadyrows Machtgefüge binnen zwei Monaten. Ende August hatten tschetschenische Rebellen das zur Festung ausgebaute Heimatdorf des Moskau-treuen tschetschenischen Republikschefs in einer Nacht- und Nebelaktion gestürmt, am Dienstag nahmen sie das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Grosny ins Visier.
Mit ihrem jüngsten Husarenstück strafte die Guerilla einmal mehr Kadyrows Propaganda Lüge, er habe die Krisenrepublik befriedet und "zu einem der sichersten Orte weltweit" gemacht. Der Vorfall "ist ein Schlag ins Gesicht von Ramsan Kadyrow", meinte der russische Kaukasusexperte Andrej Malaschenko.
Wie im August in Khosi-yurt erfolgte auch der Überfall in Grosny in den frühen Morgenstunden. Und er war symbolisch: Der russische Innenminister weilte gerade in der tschetschenischen Hauptstadt, in der russischen Teilrepublik wurden die Sicherheitsmaßnahmen drastisch verstärkt, weil gerade die Volkszählung im Gang ist und bei der gestrigen Parlamentssitzung sollten wichtige mehrere Gesetze verabschiedet werden.
Was sich genau vor und im Parlamentsgebäude abgespielt hat, darüber kursierten widersprüchliche Meldungen. Sicher ist nur, dass es sich um ein Selbstmordkommando gehandelt hat. Den Agenturberichten zufolge drangen vier bis sechs schwer bewaffnete Rebellen bis zum Eingang des Gebäudes vor. Das Fahrzeug mit den Angreifern sei unbemerkt in einer Kolonne mit den Autos der Abgeordneten auf das Gelände gelangt, hieß es. Vor dem Eingang sprengten sich dann ein oder zwei Rebellen sofort in die Luft und rissen dabei vier Wachposten mit in den Tod. Die anderen Rebellen rannten laut den Berichten inzwischen in das Gebäude und nahmen zunächst angeblich mehrere Abgeordnete als Geiseln. Eigentliches Ziel ihrer Aktion war aber offensichtlich die Ermordung von Parlamentspräsident Dukvacha Abdurachmanow, dem Durchpeitscher der von Kadyrow befohlenen Gesetze: In Abdurachmanows Büro im vierten Stock soll es zu einer heftigen Schießerei zwischen seinen Bodyguards und den Kämpfern gekommen sein, schrieben einige russische Medien unter Berufung auf anonyme Quellen im tschetschenischen Innenministerium. Abdurachmanow selbst blieb offenbar unversehrt. 17 andere Personen wurden verletzt. "Die Terroristen wurden alle liquidiert", verkündete Kadyrow wenig später mit dem Stolz eines Gehörnten.
Diese Erfolgsmeldung war er der Moskauer Zentralmacht schuldig - immerhin werfen Kadyrows latente Misserfolge "im Kampf gegen die Banditen" ein negatives Schlaglicht auf die, die ihn mit dieser Aufgabe betraut hatten - vor allem auf Regierungschef Wladimir Putin, der 2006, damals noch Kremlchef, Kadyrow ins Amt gehievt hatte.
Der russische Innenminister Raschid Nurgalijew bemühte sich in Grosny denn auch, den Vorfall kleinzureden. Solche Ereignisse seien in Tschetschenien eher die Ausnahme: "Es ist hier stabil und ruhig", versicherte er.
Ein Flächenbrand
Zehn Jahre nach dem von Moskau offiziell verkündeten Ende des zweiten Tschetschenien-Krieges bleibt die Republik eine blutende Wunde. Selbst Präsident Dmitri Medwedew musste im Frühjahr einräumen, dass die instabile Lage in Tschetschenien und das rasante Übergreifen des bewaffneten Widerstandes auf die übrigen nordkaukasischen Teilrepubliken zu Russlands größtem innenpolitischen Problem geworden ist.
Fast täglich kommt es zu Übergriffen auf Sicherheitskräfte und Anschlägen auf Politiker. Der bewaffnete Widerstand hat sich zudem stark radikalisiert. Vor allem in religiöser Hinsicht. Der Kampf gegen die "russischen Besatzer" und deren lokale Handlanger wird unter der Ägide des Jihad, des Krieges gegen die Ungläubigen, geführt; Ziel ist nicht mehr die Schaffung eines demokratischen, unabhängigen Staatswesens, sondern ein nordkaukasischer Scharia-Staat vom Schwarzen Meer bis zum Kaspischen Meer. Die Zäsur erfolgte, nachdem Putin Aslan Maschodow, den in die Berge geflüchteten letzten demokratisch gewählten Präsidenten Tschetscheniens, 2005 liquidieren ließ, als dieser Friedensgespräche anbot. Mit ihm starb die auch die Vision der säkularen, unabhängigen tschetschenischen Republik Itschkeria.
Sein Nachfolger Doku Umarow setzte an ihre Stelle das Kaukasus-Emirat, für das seine kriegserprobten Islamisten auch in Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Tscherkessien kämpfen. Sie leisten Kadyrow und seinen Stoßtrupps hinhaltenden Widerstand. Der Potentat terrorisiert deshalb die schutzlose Zivilbevölkerung und Menschenrechtler. Folter und Mord sind an der Tagesordnung.
20 Jahre Krieg und Terror
Die Teilrepublik Tschetschenien ist seit fast 20 Jahren der gefährlichste Unruheherd in Russland. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 kämpft das islamische Kaukasus-Volk um Unabhängigkeit von Moskau. 1994 marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein, um den Souveränitätskurs zu beenden. In dem fast zweijährigen Krieg kamen rund 80.000 Menschen ums Leben.
1996 musste sich Moskau faktisch geschlagen aus der Republik zurückziehen und einen Waffenstillstand akzeptieren. Die Entscheidung über den künftigen politischen Status Tschetscheniens wurde aber aufgeschoben. 1997 unterzeichneten Russlands damaliger Präsident Boris Jelzin und der tschetschenische Militärführer Aslan Maschadow einen Vertrag über Frieden und die künftigen Beziehungen. Die Führung der Kaukasusrepublik interpretierte das Abkommen als Anerkennung seiner Unabhängigkeit.
Moskau lehnte eine Souveränität Tschetscheniens aber weiterhin strikt ab und marschierte erneut ein. Nach einer zweiten militärischen Eroberung 2000 wehrten sich die Tschetschenen jahrelang mit Guerilla-Attacken. Terroristen trugen den Kampf immer wieder nach außen, so bei den Geiselnahmen in einem Moskauer Musical-Theater 2002 und in einer Schule in der Stadt Beslan 2004 mit Hunderten Toten. Seit 2003 wird Tschetschenien von moskautreuen Präsidenten beziehungsweise Republikchefs beherrscht. Verwaltungschef Achmat Kadyrow starb 2004 bei einem Bombenanschlag. Seitdem regiert dessen Sohn Ramsan Kadyrow.