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Eine politische Demütigung der selteneren Art musste am Mittwoch das Europäische Parlament hinnehmen; und dies nicht von irgendjemandem, sondern vom deutschen Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, also der obersten rechtlichen Instanz des mächtigsten EU-Landes.
Eine stabile Mehrheit im Europaparlament sei nicht nötig, damit es funktionsfähig bleibe, urteilten die Höchstrichter und schlossen daraus, dass die in Deutschland beschlossene Drei-Prozent-Hürde für die EU-Wahl dem Grundsatz der Wahlgerechtigkeit widerspreche. Ein Vergleich mit dem Bundestag verbiete sich, da stabile politische Mehrheiten im EU-Parlament für das Funktionieren der Union nicht wirklich notwendig seien.
So ungefähr lässt sich der Richterspruch sinngemäß zusammenfassen.
In der Sache selbst sind die Folgen des Karlsruher Urteils überschaubar, immerhin hatten bereits zuvor 12 EU-Staaten keine Sperrklausel - jetzt sind es eben 13. Das freut Klein- und Kleinstparteien und ärgert die Etablierten. Es gibt wahrlich größere Tragödien dieser Tage.
Es ist die Begründung, die die EU-Abgeordneten wie ein Schlag in die Magengrube treffen muss: nicht notwendig für ein reibungsloses Funktionieren der Union. Zumindest nicht unbedingt.
Dieses Verdikt ist eine schnörkellos-brutale Zustandsbeschreibung, die Sonntagsrhetorik über das EU-Parlament als Hort der europäischen Demokratie et cetera, et cetera auf den Boden der politischen Realität zurückholt. Genau das ist das EU-Parlament eben nicht.
Aber es könnte dazu werden, ja muss es wahrscheinlich sogar; nicht schon morgen, aber vielleicht übermorgen. Die teils jahrhundertealte Tradition der europäischen Nationalstaaten lässt sich nicht so einfach zur Seite wegwischen,
auch wenn ihre Form im globalen Maßstab längst kein Gewicht mehr besitzt. Das wissen die Technokraten, befürchten die meisten Politiker und ahnen wohl auch die meisten Bürger; aber der Umbau von Institutionen ist eine Frage von Jahrzehnten.
Die deutschen Verfassungsrichter haben all dies und den Stand der Bemühungen im Hier und Heute berücksichtigt. Und ihr Urteil wird die künftige Entwicklung einer europäischen Demokratie begleiten - und zwar als schwere Hypothek. Mit einer banalen Prozenthürde hat das nichts zu tun.