Islamisten erobern ganze Gebiete, in denen Terroristen trainiert werden können.
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Abuja/Wien. Diejenigen, die es noch konnten, ergriffen so schnell wie möglich die Flucht - in die Büsche, auf eine einsame Insel im Tschad-See. Die islamistische Terrororganisation Boko Haram ist bei einer neuerlichen Offensive in Nordnigeria mit gewissenloser Brutalität vorgegangen: Rund um die Stadt Baga wurden 16 Dörfer niedergebrannt und Einwohner massakriert. Und auch in Baga, einem kleinen Handelszentrum in der Region, wüteten die Boko-Haram-Kämpfer. Auf den Straßen lägen Leichen herum, berichtete ein Behördenvertreter der BBC. Die Zahl der Opfer war zunächst unklar. Es dürfte sich um mehrere hundert Getötete handeln. Offizielle wiesen jedenfalls Medienberichte, wonach mehr als 2000 Menschen umgebracht worden waren, am Freitag zurück.
Es handelt sich bei dem Angriff um keinen Einzelfall. In Nordnigeria sind brutale Übergriffe und Massaker von islamistischen Terroristen fast schon tägliche Realität, allein im vergangenen Jahr tötete Boko Haram mehrere tausend Menschen.
Niemand ist vor den Fanatikern sicher. Die Kämpfer von Boko Haram (was übersetzt so viel bedeutet wie "Westliche Bildung ist Sünde") überfallen staatliche Institutionen wie Amtsgebäude genau so wie die ihnen verhassten Kirchen. Oder sie zünden Bomben auf belebten Märkten. Hinzu kommen Entführungen: So fehlt von den mehr als 200 Mädchen, die im April 2014 aus einer Dorfschule verschleppt worden waren, noch immer jede Spur.
Nigerias Armee startetGegenoffensive
Das Antlitz von Boko Haram hat sich gewandelt: 2009 nach Erstürmung ihres Hauptquartiers ging in die Islamistensekte in den Untergrund. Und führte sie zunächst Anschläge und Überfälle durch, hat sich Boko Haram nun fast schon in eine Armee oder zumindest in eine schlagkräftige Miliz verwandelt. Denn vor allem im nordöstlichen Bundesstaat Borno hat Boko Haram immer wieder Landstriche erobert. Auch die nun überfallene Stadt Baga liegt in diesem Bundesstaat. Die nigerianische Armee - die bei ihren Einsätzen selbst oft brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgeht - versuchte am Freitag, die Gebiete wieder zurückzuerobern.
Boko Haram folgt dabei einer Entwicklung, die in Afrika schon länger zu beobachten ist: Noch bevor der Islamische Staat (IS) in Syrien und im Irak auftauchte, gelang es bereits in Afrika islamistischen Terrormilizen, einzelnen Staaten ganze Gebiete zu entreißen. So eroberten die Kämpfer der Al-Shabaab weite Teile von Zentral- und Südsomalia. Zudem gelang es einem Bündnis von islamistischen Organisationen - von denen vermutlich die Al-Kaida im Maghreb (Aqim) die stärkste war -, zeitweise ganz Nordmali zu erobern.
Verschiedene Komponenten begünstigen dabei immer wieder den Aufstieg von Terrormilizen: Die Gebiete, in die sie vordringen, sind von den Regierungen vernachlässigt. So hat in Somalia ein mehr als zwei Jahrzehnte andauernder Bürgerkrieg für Anarchie gesorgt, aus Nordmali hatte sich vor dem Eroberungsfeldzug der Islamisten die Regierung mehr oder weniger verabschiedet, weil sie in der südlichen Hauptstadt Bamako mit internen Machtkämpfen beschäftigt war. Und auch Nordnigeria ist eine vom Staat vernachlässigte Region mit großer Armut. In diesen Gebieten gibt es wenig Arbeit und wenig Perspektiven, dafür viele frustrierte beschäftigungslose junge Männer. Das ist ein ideales Umfeld für die Terrormilizen, um Attentäter zu rekrutieren.
Der Schmuggel finanziertdie Terroristen
Die Abwesenheit des Staates erleichtert es den Terrormilizen zudem, sich zu finanzieren. Gänzlich ungestört können sie von Geschäftsleuten Schutzgeld erpressen oder Schmuggelnetzwerke aufbauen. So ist etwa bekannt, dass die Al-Kaida im Maghreb Routen in der unwegsamen Sahelzone für das Waffen- und Drogengeschäft nutzt.
Bei den örtlichen und auch bei den westlichen Regierungen haben die Gebietsgewinne der Terrormilizen jedenfalls die Alarmglocken schrillen lassen. Denn mit den Eroberungen entstehen Rückzugsräume. Es herrscht Angst, dass dort die Fanatiker Anschläge planen sowie Terroristen und Kämpfer trainieren.
Deshalb bekämpfen in Somalia - laut Beobachtern mit dem Wohlwollen des Westens - kenianische Truppen die Al-Shabaab, die in Kenia bereits Anschläge verübt hat. Zudem sind Soldaten der Afrikanischen Union in Somalia stationiert, die Al-Shabaab wurde aus fast sämtlichen größeren Städten vertrieben, operiert aber weiter in Somalia.
Auch gegen Boko Haram hat sich mittlerweile eine breite Front gebildet, an der sich der Tschad und Kamerun beteiligen. Und aus dem Norden Malis wurden die Islamisten dank eines Einsatzes der französischen Armee wieder vertrieben.
Das ändert aber nichts daran, dass die Al-Kaida im Maghreb in den Wüstengebieten der Sahara und der Sahelzone weiter aktiv ist. Auch wenn einzelne Regionen der Terrormiliz entrissen werden konnten, bewegt sie sich weiterhin in sehr unwegsamen Gebieten, die nicht ganz kontrolliert werden können. Und immer wieder rufen die Anführer der Aqim zu Anschlägen in Europa auf. Ein Land wird dabei seit seines Einsatzes Mali besonders oft als Ziel genannt: Frankreich.