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Schlampige Verhältnisse und der Chronometer

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

"Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt!" Mit diesem Stehsatz aus dem Arsenal der banalen Mehrzwecksprüche versucht die Regierung, den Sparzwang auf eine Ursache zurückzuführen. Dieses Prachtstück an begrifflicher Unschärfe ist mit einer simplen Frage als lachhafte Schuldvermutung zu entlarven: Wer ist dieser "Wir"? Leben Alleinerzieherinnen, Mindestpensionisten, Supermarktkassierinnen, Krankenschwestern und Leiharbeiter im prassenden "Wir"-Kollektiv "über unsere Verhältnisse"?


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"Verhältnisse" sind das Ergebnis von "Verhalten". Einen wesentlichen Aspekt wertet die US-Unabhängigkeitserklärung von 1776 als "unveräußerliches" Grundrecht: "das Streben nach Glück". Doch die gesellschaftliche Realität differenziert "unsere Verhältnisse" geradezu gnadenlos. Dazu genügt ein Vergleich zwischen der Ordinationshilfe und dem SUV-Fahrer in der Großstadt.

Gewiss, jährlich gehen annähernd 4000 "Ich-AG" pleite, weil sie über ihre Verhältnisse hinaus gezielt oder gelebt haben. Anders unser "Über-Wir", nämlich Regierung, Parteien und Gesetzgeber. Ihnen liegen "unsere Verhältnisse" derart am Herzen, dass ihnen das kollektive Glückstreben 165 Milliarden Euro Staatsschuld (plus 7,6 Milliarden allein an Zinsen) und alljährlich ein saftiges Defizit wert ist; dass sie die Burgenländer mit ebenso teuren wie nutzlosen Assistenzeinsätzen von beweglichen Vogelscheuchen in Uniform beglücken, den Kranken, Behinderten und Pflegebedürftigen aber die unersetzlichen Zivildiener wegsparen. Die Logik dahinter ist noch rätselhafter als das Delphische Orakel.

Denn da messen sich die Parteien das Privileg zu, auf unser aller Kosten "über ihre Verhältnisse" zu leben. Sie fördern sich selbst in verblüffender "Wir"-Eintracht mit 138 Millionen Euro, um 5 Millionen mehr als im zehnmal größeren Deutschland. Das sind nicht "unsere", sondern reichlich schlampige Verhältnisse, denen die übrigen "Wir" hilflos gegenüber stehen.

"Die Zeiten haben sich geändert." Das ist auch so eine Allzweck-Platitüde. Bundeskanzler Werner Faymann begründete damit jüngst seine Bekehrung zu einer Vermögenssteuer. Doch eine Zeit "an sich" gibt es nicht, Zeit entsteht durch messen mit dem Chronometer. Zeit ändert weder sich noch sonst etwas. Nur was Menschen in Zeitabschnitten tun, ändert etwa die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Zeit ist kein geheimnisvoller Kobold, auf den man sich ausreden darf, wenn Dinge nicht wunschgemäß laufen oder peinliche Kurswechsel unausweichlich sind.

Seis drum, die Floskel hat sich eingebürgert, wiewohl sie die Logik auf den Kopf stellt: "Wir" verändern unser Verhalten und nach einer gängigen Formel obliegt "der Politik" in einer Demokratie die Aufgabe, der größtmöglichen Zahl größtmögliches Glück zu bescheren. Weil das sehr viel Geld kostet, ist die Bescherung fast unvermeidlich: Unser Verhalten ändert sich, und hinterher wundert man sich, was dabei herauskommt.

Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".