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Der griechische Sklave Äsop gilt als der Erfinder der Fabeldichtung - also jener literarischen Form, die moralisch-psychologische Lehren in lustige Tiergeschichten einkleidet.
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Eine Katze gab sich als Arzt aus, um die Hühner zu überlisten. Sie fragte nach deren Befinden. Das sei sehr gut, antworteten die Hühner - solange nur die Katze fernbliebe! Mit ähnlichem Scharfsinn sollten auch Menschen versuchen, die bösen Absichten anderer zu durchschauen.
Fabeln wie diese schreibt man dem Griechen Aisopos ("Äsop") zu. Er soll im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt haben. Herodot und Aristoteles berichten von einem Sklaven dieses Namens: Er diente auf Samos und wurde schließlich freigelassen. Laut Plutarch reiste er später im Auftrag des wohlhabenden, lydischen Königs Kroisos (Krösus) nach Delphi - und beleidigte dessen Bewohner. Das kostete ihn das Leben. Andere Autoren schmückten diese Vita fabelhaft aus. Sie führten die verschiedensten Geburtsorte und weitere königliche Dienstgeber ein, ließen aber auch die Göttin Isis sowie die Musen in Äsops Leben eingreifen.
Egal, ob es Äsop wirklich gab oder nicht: Sein Name wurde zum Markenzeichen, ja sogar zum Gattungsnamen der Fabeldichtung. Die ursprüngliche Sammlung existiert längst nicht mehr. Stattdessen fertigte man schon in der Antike Überarbeitungen an. Einige fügten den Geschichten moralische Sentenzen und Anleitungen fürs eigene Handeln bei, andere nicht.
Vergnügliche Belehrung
Im Lauf der Zeit gesellten sich jedenfalls etliche "äsopische Fabeln" hinzu. Sie alle dienten nicht nur dem Vergnügen, sondern auch der Belehrung. Einst verpackte man Weisheiten und Botschaften nämlich gern in Geschichten, um sie leichter von einer Generation zur nächsten weiterreichen zu können. Das gilt auch für die Fabel vom durstgeplagten Ziegenbock. Er sprang Hals über Kopf in einen Brunnen, ohne sich um die Möglichkeit der Rückkehr zu kümmern. Der Mensch, so die Aussage, müsse stets vorab an die Folgen seines Tuns denken.
Gelegentlich werden Gottheiten wie Zeus, Hermes oder Aphrodite auf die Bühne gebeten; ebenso Handwerker oder Bauern. Meist jedoch handeln Tiere mit recht stereotypen Eigenschaften. Die Schlange zeichnet sich etwa durch Hinterhältigkeit aus. Der Fuchs ist meist schlau, der Löwe mächtig. Wir verwenden ähnliche Zuordnungen noch immer, wenn wir jemanden z.B. "eitlen Pfau", "dumme Ziege" oder "blöde Kuh" schimpfen (aus rechtlichen Gründen bitte nur in Gedanken).
Warum eignen sich Tiere so vorzüglich für Gleichnisse? Auch darüber klärt uns eine antike Fabel auf. Demnach wurden zunächst viele Tiere erschaffen, aber bloß wenige Menschen. Um das Missverhältnis auszugleichen, verwandelten die Götter später etliche Tiere in Menschen. Die ursprünglichen Charakterzüge sollen dabei erhalten geblieben sein.
In der äsopischen Fabelwelt wird viel gestorben. Vorher kommt der Handelnde aber oft zur Einsicht. Die Gleichnisse rufen zur Genügsamkeit auf, zur Bescheidenheit - und dazu, sich ins Bestehende zu fügen. So war der Esel fasziniert vom Gesang der Zikaden. Er wollte von ihnen wissen, welche Nahrung ihre Stimmen so lieblich mache. "Tau", lautete die Antwort. Um eine ebenso schöne Stimme zu erlangen, ernährte sich der Esel fortan nur vom Tau - und verhungerte.
Versucht man etwas zu erreichen, das gegen die eigene Natur ist, folgt das Unglück auf dem Fuß. Das weiß auch der Fuchs, der seiner Schlauheit wegen zum König aller Tiere bestimmt wurde. Als der erste Mistkäfer vorbeiflog, sprang er jedoch von der Sänfte auf und jagte diesem hinterher. Das höchst unwürdige Schauspiel kostete ihm gleich wieder die Regentschaft.
Gleichnisse besitzen besondere Überzeugungskraft, das wissen Rhetoriker: Der Fuchs fragte das Wildschwein, warum es denn gerade jetzt seine Zähne wetze - obwohl doch kein Jäger in Sicht sei. Das Wildschwein erwiderte sinngemäß: Natürlich jetzt! Denn droht erst einmal Gefahr, bleibt dafür keine Zeit mehr! Wer in Friedenszeiten zur Verstärkung der Stadtmauern oder der Flotte aufrufen wollte, konnte diese Geschichte erzählen. Entsprechend gern griffen Redner auf die äsopischen Tierfabeln zurück.
Redekünstler deuten das gegnerische Argument oft zum eigenen Vorteil um: Der Hund und die Sau lagen miteinander in bitterstem Streit. Selbst die göttliche Aphrodite würde Schweine hassen, warf der Hund ein: Deshalb ließe sie jene Menschen, die zuvor Schweinefleisch verzehrt hatten, nicht in ihre Tempeln. Die Sau bestritt das Zutrittsverbot nicht, begründete es aber anders: Die Göttin handle hier gar nicht aus Hass gegen die Schweine - sondern vielmehr aus Sorge, dass jemand diese Tiere schlachten könnte!
Ein mäßig begabter Zithersänger übte in einem weißgekalkten Haus. Der Hall gaukelte ihm eine schöne Stimme vor (deshalb singen Menschen heute gern im Badezimmer oder mischen beim Karaoke künstlich Hall zu). Als der "Künstler" seine Stimme aber im offenen Theater erhob, vertrieb ihn das Publikum.
Warnungen
Eine vergleichbare Aussage besitzt die Fabel von den Wanderern, die ein mächtiges Schiff weit draußen am Meer erspäht haben wollten. Als es in Strandnähe kam, entpuppte es sich als simples Stück Treibholz. Fazit: So mancher Blender stellt sich bei näherem Hinsehen als Versager heraus.
Ein Fischer spannte Netze aus. Erfolglos. Schließlich schlug er aufs Wasser, bis die erschrockenen Tiere in die Maschen gerieten. Noch heute schüren manche Zeitgenossen Angst, um diese dann für eigene Machtzwecke zu missbrauchen. Demagogen ("demos" heißt Staatsvolk, "ágein" führen) gab es schon in der Antike. Auch damals appellierten sie an Gefühle und Vorurteile, um ihr Publikum zu lenken.
Esel und Fuchs begegneten einem Löwen. Der Fuchs lieferte den Esel aus und forderte dafür freies Geleit. Doch kaum saß der Esel in der Falle, fraß der Löwe auch den Fuchs. Die Geschichte erinnert an einen Rat des Florentiners Niccolò Machiavelli, festgehalten im 16. Jahrhundert: Verbünde dich nicht mit einem Mächtigeren gegen einen Dritten; denn nach dem gemeinsam errungenen Sieg bist du das nächste Opfer!
Der Löwe verliebte sich in eine Bauerntochter. Der Vater gab vor, das Mädchen würde sich vor dem Tier fürchten. Also ließ sich der Löwe brav die Zähne ziehen sowie die Krallen abschneiden. Er brachte sich selbst um seine Macht und wurde vertrieben. Hier schützt der Bauer seine Tochter übrigens vor, um seine eigenen Wünsche zu verbergen.
Einige unserer geflügelten Worte gehen letztlich auf äsopische Fabeln zurück. So schenkte der Gott Hermes einem Mann eine Gans, die goldene Eier legt. Von Ungeduld getrieben, wollte der Beschenkte auch deren vermeintlich güldene Innereien zu Geld machen. Er schlachtete das Tier - und wurde enttäuscht. Aus Gier nach schnellem Gewinn verlor er jenen Schatz, den er schon besessen hatte.
Altersschwach sowie des Jagens müde, ließ sich der Löwe von anderen Tieren besuchen. Der Fuchs erkannte: In die Höhle des Löwen führten viele Spuren - doch keine einzige wieder zurück! Daraufhin verzichtete der Fuchs auf eine Visite.
Dass Undank oft der Welt Lohn ist, belegt die Geschichte vom Wanderer: Er fand eine starrgefrorene Schlange und wärmte sie unter seinem Gewand. Zu neuen Kräften gelangt, biss sie ihn. Der Sterbende bereute, eine Schlange an seinem Busen genährt zu haben.
Als die Vögel einen König erhalten sollten, sah sich die schwarzgraue Dohle im Nachteil. Um ihre Chancen zu verbessern, steckte sie sich die Federn prachtvollerer Vögel ins Gefieder. Ihr Versuch, sich mit fremden Federn zu schmücken, schlug fehl. Die Konkurrenten zupften ihr alle wieder aus.
Ein wenig Psychologie
An einem Fluss erblickte der Wolf ein trinkendes Lamm. Er suchte einen Grund, um es zu töten und warf ihm daher allerhand Untaten vor - etwa die Verschmutzung seines Trinkwassers. Obwohl das Lamm kein Wässerchen trüben konnte, wurde es schließlich gefressen. Schon im Vorfeld war der Wolf hier bemüht, sein Gewissen zu beruhigen. Aus diesem Grund erklärte er das Opfer zum Täter.
Besonders bekannt ist die Fabel vom Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen. Darin wertet der Fuchs die ersehnten, letztlich aber unerreichbaren Früchte als "unreif" oder "sauer" ab. So bekämpft er seine Frustration. Auch so mancher heiß begehrte Mensch ist schon abgewertet worden, nachdem er die Gefühle des "Möchtegern-Liebhabers" nicht erwidert hat.
Als Menschen erstmals Kamele erblickten, erschraken sie. Doch mit der Zeit bemerkten sie deren gutmütigen Charakter. Nicht alles, was gefährlich anmutet, ist es auch. Außerdem kann Gewohnheit die Furcht mildern. In der modernen Konfrontationstherapie werden Patienten mit Phobien den angstauslösenden Reizen ausgesetzt - freilich unter fachkundiger Anleitung.
Ein Schiffbrüchiger beschuldigte das Meer: Es wolle die Menschen mit Liebreiz anlocken, diese aber später ins Verderben stürzen. Das Meer erwiderte: Es sei von Natur aus sanft. Erst die Winde versetzten es in Raserei! Sind Menschen verärgert, schnauzen sie oft den Erstbesten an, dem sie habhaft werden - und nicht die tatsächlich Verantwortlichen: Der Zugbegleiter wird z.B. ob der Verspätungen, die Kassierin der Preise wegen gerügt. Das ist einfacher, als sich an die Entscheidungsträger zu wenden.
Einem Esel behagte die Arbeit beim Gärtner nicht. Zeus ließ ihn zu einem Töpfer wechseln, dann zu einem Gerber. Doch der Esel ward immer unzufriedener und sehnte sich schließlich nach dem Gärtner zurück. Selbst wir wissen das Gewohnte und Vertraute oft erst dann zu schätzen, wenn wir es verloren haben.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt in Wien und schreibt seit 1991 im "extra" der Wiener Zeitung. Internet: www.himmelszelt.at