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Lokalaugenschein in Ägyptens größter Industriestadt im Nildelta.
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Mahalla. Die Stimmung in Mahalla Al-Kobra, Ägyptens größter Industriestadt, ist gedrückt. Tamer sitzt vor dem Werkstor der staatlichen Baumwollspinnerei und hat kein gutes Gefühl. Zuerst haben die Organisatoren der Massenproteste Mursi und seiner Regierung ein Ultimatum gesetzt, danach das Militär. Die Generäle wollen eingreifen, wenn binnen 48 Stunden keine Lösung für Ägyptens wohl schwerste politische Krise gefunden werde.
Tamer ist verwundert, dass der Präsident sich bis jetzt nicht zu Wort gemeldet hat. Seine Rede im Vorfeld der Massenproteste letzten Sonntag sei ja mager ausgefallen, fasst der 45-jährige Ägypter zusammen. Mursi gab zwar Fehler zu, gelobte Besserung, schob aber die Schuld für die Missstände in der Gesellschaft entweder auf ausländische Kräfte oder Anhänger des vorigen Regimes.
Schon im letzten Dezember sind Tausende von Fabrikarbeitern in Mahalla gegen Mursi und seine Regierung auf die Straße gegangen und haben den Rücktritt von Premierminister Hisham Kandil und aller Verantwortlichen gefordert, die in das Zugunglück von Assiut in Oberägypten kurz zuvor verwickelt waren, in dem mehr als 50 Kinder getötet wurden. Falls nichts geschehe, werde es eine zweite Revolution geben, die den Sturz des Präsidenten zum Ziel hat, prophezeiten die Arbeiter aus dem Nildelta schon damals. Nicht umsonst wird Mahalla mittlerweile die Wiege der ägyptischen Revolution genannt.
"Es ist nichts geschehen seitdem", kommentiert Tamer den Ausgang ihrer Proteste. Das Land sei nur weiter auf Abwärtstrend. Stromausfälle, nicht genügend Benzin, kaum Gas zum Kochen, ins Uferlose steigende Lebensmittelpreise und das Wasser wird auch langsam knapp. Hinzu käme eine "Muslimbruderisierung" des Landes, indem alle wichtigen Posten mit Mursis Truppe besetzt würden. "Das wollen wir nicht", ereifert sich Tamers Kollege Fawzi. Letzte Woche versuchten Gegner Mohamed Mursis das Büro der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, dem politischen Arm der Muslimbrüder, in Mahalla zu stürmen und richteten erheblichen Schaden an. Im Nildelta kam es schon im Vorfeld der Großdemonstration zu Zusammenstößen zwischen Befürwortern und Gegnern des Präsidenten. Fünf Menschen wurden getötet.
Mahalla und Baumwolle sind nicht voneinander zu trennen. Die ganze Stadt lebt davon, in irgendeiner Form hat jeder der 450.000 Einwohner mit der Pflanze oder deren Verarbeitung zu tun. Spinnereien, Webereien, Nähereien und Stickereien prägen das Bild. Doch auch hier ist der Niedergang der Wirtschaft Ägyptens unverkennbar. "Die Verkaufszahlen gingen im letzten Jahr um sieben Prozent zurück", sagt der Besitzer der Näherei El Sayaad Tricot, Mohamed Elsayaad.
Die Krise der ägyptischen Baumwollindustrie ist allerdings nicht erst in den letzten Monaten entstanden, wohl aber seit dem Amtsantritt der Mursi-Regierung verstärkt worden. Schon in der Endphase des alten Regimes wurden rückläufige Produktionszahlen bekannt. So fiel 2010, ein Jahr vor der Revolution, der Ertrag der Baumwollernte auf ein Rekordtief. Mit den Preisen der Konkurrenz aus Indien und Pakistan konnten die ägyptischen Bauern nicht mithalten. Die unter dem Militärrat ernannte erste Post-Mubarak-Regierung gab 55 Millionen Euro aus, um das weiße Gold zu fördern. Die Arbeiter in Mahalla bekamen höhere Löhne, die Bauern Saatgut und Dünger und einen festen Abnahmepreis zugesagt. "Doch die Produktivität blieb auf dem gleichen, niedrigen Niveau", fasst Mohamed Elsayaad zusammen, "es ist ein Strukturproblem". Er verarbeitet gar keine ägyptische, sondern indische Baumwolle. So sind Socken "made in Egypt", aber nicht unbedingt aus ägyptischer Baumwolle.