Die Wahlen zum EU-Parlament stehen im Schatten der Geschichte und im Zeichen aktueller Krisen. | Zu denken geben sollte vor allem die bisher meist geringe Wahlbeteiligung.
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Blickt man zurück auf 35 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament, so ergeben sich viele Befunde: Schon im Kontext der ersten Urnengänge wurden sie als Wahlen zweiter Ordnung begriffen. Trotz eigener Wahlprogramme der europäischen Parteienbünde wiesen die Wahlkämpfe nur selten transnationale Themen auf.
Primär machten die Parteien einander auf den mitgliedstaatlichen Bühnen Konkurrenz. Plakate und Werbesprüche wiesen wenig kontroverse Allgemeinplätze wie Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand auf. Die Abstrafung nationaler Regierungsparteien war kennzeichnend. Obwohl das Wahlsystem eine schrittweise Angleichung erfuhr, ist im Hinblick auf die Wahlbeteiligungen ein anhaltender Rückgang erkennbar, Anomalie und Paradoxon zugleich, da die Kompetenzen des Europäischen Parlaments stetigen Zuwachs erfahren haben und dieses inzwischen bedeutsamer ist als nationale Parlamente.
Zu unterscheiden ist zwischen Mitgliedsländern, in denen keine Wahlpflicht besteht und wo sie praktiziert wird, wie in Belgien, Italien oder Luxemburg, weshalb dort überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligungen zwischen 70 und 90 Prozent erzielt worden sind.
In anderen Staaten lagen die Werte mehr oder weniger deutlich darunter. Großbritannien trug bei vier von sechs Wahlen mit einer Wahlbeteiligung von rund 33 Prozent die rote Laterne klar unterhalb nationaler Kommunalwahlen. Während die 15 Mitgliedstaaten der alten EU (bis 2004) noch eine durchschnittliche Wahlbeteiligungsquote von rund 47 Prozent aufwiesen, lag diese bei den zehn neuen Mitgliedern unter 30 Prozent. Die wenig verheißungsvolle Geschichte der europäischen Parlamentswahlen steht mehr für Kontinuität als für Wandel.
Diese Problematik wird noch durch eine EU verstärkt, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten fünf Verträge (Maastricht, Amsterdam, Nizza, EU-Verfassung und Lissabon) geleistet hat, die immer wieder ungenügend waren. Die Finanzmarkt-, Banken- und Staatsverschuldungskrisen wurden zögerlich als Herausforderung angenommen und halbe Lösungen dafür angeboten. Obwohl die EU nach wie vor von der Souveränitätsmacht der Mitgliedstaaten abhängt, wird sie weiterhin eher als Sündenbock instrumentalisiert. Für vieles wird sie verantwortlich gemacht, wofür sie keine Verantwortung trägt. Statt sie zu stärken, wollen die Denkzettel-Wähler am 25. Mai die Oberhand gewinnen. Europas Tea Partys sind aufgestellt und verkünden offen ihre Putsch-Absicht, wenn sie nur ins EU-Parlament einziehen, um beizutragen, die EU aufzulösen.
Die durch Krisen geschwächte und mit neuen Aufgaben wie der Ukraine überforderte EU müsste jetzt eine Stärkung erfahren. Ob das realisiert wird, bleibt zu hoffen, denn es geht nicht nur um das Parlament, sondern auch um die Kommission und ihre Führungsrolle in der EU. Das Problem könnten nicht Europa und seine Institutionen, sondern die Europäer selbst sein.
Michael Gehler ist Professor für Geschichte an der Universität Hildesheim sowie Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).