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Ohne Beherrschung der Muttersprache werden Kinder später heimatlos. | Schon im Kindergarten wäre eine zusätzliche Sprachförderung nötig. | Wien. Mehr Schaden als Nutzen sehen Experten, wenn Eltern, die Deutsch nur mäßig beherrschen, mit ihren Kindern dennoch nur diese Sprache sprechen, um sie so bestmöglich auf das österreichische Schulsystem vorzubereiten. Emotionalität werde hauptsächlich sprachlich transportiert, erklärt dazu die Entwicklungspsychologin Pia Deimann im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
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"Dazu erfordert es aber einen differenzierten Wortschatz." Die Grundemotionen sind natürlich auch nonverbal fassbar: Freude, Angst, Wut, Trauer. "Um eine Emotionsregulierung zu erreichen, muss ich ein Gefühl aber auch benennen können. Und nur was ich benennen kann, kann ich auch beherrschen."
Mütter mit schlechten Deutschkenntnissen sind oft nicht in der Lage, ihren Kinden ihre Emotionen in dieser Sprache ausreichend mitzuteilen. Erst wenn ein Kind höre, "du bist wütend und das fühlt sich so und so an", könne es dieses Gefühl verinnerlichen. Fehlen solche Erfahrungen, entwickle sich einerseits die Sprache des Kindes schlecht, habe aber andererseits eben auch negative Auswirkungen auf seine emotionale Entwicklung.
Eine jüngst von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführte Spracherhebung unter Wiener Volksschülern ergab, dass 60 Prozent der Neun- bis Zehnjährigen Migrationshintergrund haben. In 93 Prozent dieser Familien wird zu Hause in irgendeiner Form Deutsch gesprochen. In jenen Haushalten, in welchen die Kinder bereits in Österreich geboren wurden, wird bei 44 Prozent bereits ausschließlich Deutsch gesprochen.
"Wenn man sich diese Zahlen ansieht, müsste man meinen, dass das höchst positive Auswirkungen auf den Bildungserfolg hat", meint dazu die Sprachwissenschafterin und Projektmitarbeiterin Claudia Lo Hufnagl. Doch dem sei nicht so. Auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist es nämlich nicht ratsam, die nicht gut beherrschte Landessprache in der Kommunikation mit den Kindern der Muttersprache vorzuziehen. Bei Schuleintritt habe das Kind dann keine einzige gut entwickelte Sprache.
Ebenso betont die Linguistin und Leiterin der Sprachenerhebung, Katharina Brizic: "Die Empfehlung an die Eltern, Sprecht möglichst viel Deutsch mit den Kindern hat sich als falsch erwiesen. Der Schwerpunkt sollte auf der Sprache liegen, die man selbst am stärksten spricht." Für die Entwicklungspsychologin Deimann ist vor allem eines klar: Wird dem Kind nur schlechtes Deutsch weitergegeben und keine sonstige Sprache, gehe damit auch eine Art von Heimatlosigkeit einher. "Es bildet sich gar keine Muttersprache aus." Und: Der Deutscherfolg bleibe dennoch aus.
Schon Dreijährige könnten vom Kindergarten profitieren
Was aber empfehlen die Experten, damit Deutsch nicht zum Stolperstein im Schulsystem wird? "Das Beste wäre natürlich, die Eltern lernen selbst sehr gut Deutsch", sagt Deimann. Ihr gefällt auch das Konzept der Nachbarschaftshilfe. "Vielleicht findet sich ja im Wohnumfeld jemand, der regelmäßig mit dem Kind Zeit verbringt und mit ihm Deutsch spricht." Da es diese Möglichkeit oft nicht gebe, rät sie, Kinder nicht erst mit fünf, sondern schon mit drei Jahren in den Kindergarten zu schicken.
Um noch bessere Ergebnisse zu erzielen, müsste allerdings auch die Betreuung im Kindergarten verbessert werden, sagt die Entwicklungspsychologin. Dabei denkt sie nicht an die Kompetenzen der Kindergartenpädagogen. "Sie sind im Bereich Sprachentwicklung und Sprachförderung gut ausgebildet - das können sie." Es gehe vielmehr um ein besseres Betreuungsverhältnis. Zehn bis maximal zwölf Kinder sollten von einer Pädagogin betreut werden. Derzeit sind es oft mehr als 20 Kinder. Diese Gruppengröße könne man auch ruhig beibehalten - aber dann eben zwei Pädagoginnen in Vollzeit einsetzen.
Und: Kommt ein Kind ohne Deutschkenntnisse in den Kindergarten, sollte zusätzlich mit einer Sprachförderung begonnen werden. Die Erfahrungen aus dem Kindergarten, der jahrelang von der Entwicklungspsychologie der Uni Wien wissenschaftlich begleitet wurde, habe gezeigt, dass Einzelunterricht weniger effizient sei als die Förderung in drei- bis vierköpfigen Kleingruppen. Wollen die Eltern dann ihr Kind beim Erlernen der neuen Sprache dennoch zu Hause unterstützen, könnten sie zum Beispiel aus Büchern vorlesen. Dafür genüge es, die Sprache aktiv nur mäßig zu beherrschen.
Das Geschichtenerzählen hilft bei jeder Sprache
Wie wichtig grundsätzlich das Vorlesen, aber auch das Erzählen von Geschichten ist, betont auch die Linguistin Brizic. Das Erzählen sei eine Form der Schriftsprache. Und - so unterschiedlich Sprachen auch sind, auf der Ebene der Schriftsprache ähneln sich Sprachsysteme. Bekomme das Kind in den ersten Lebensjahren die Muttersprache in seiner Schriftsprache durch Geschichtenerzählen vermittelt, stärke das später die Deutschkompetenz.
Brizic weiter: "Nicht nur durch starkes Deutsch erreiche ich starkes Deutsch." Soll heißen: Auf Basis einer ausgereiften Muttersprache wird jedes Kind auch leichter mit entsprechender Förderung Deutsch erlernen. Heute wisse man um die Wechselwirkungen zwischen Sprachen. Die Linguistin empfiehlt einen umfassenden Muttersprachenunterricht.
Hier pflichtet auch die Entwicklungspsychologin Deimann bei. Und sie verweist auf Finnland, das übrigens über ein Schulsystem verfügt, das bei den von der OECD durchgeführten Pisa-Tests an Schulen immer besonders gut abschneidet. "Finnland verpflichtet die Schulen, die Kinder auch in ihrer Muttersprache zu unterrichten", so Deimann.