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Schlechtes Zeugnis für die Türkei: EU fordert Ankara zum Handeln auf

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

EU-Kommission präsentiert Fortschrittsbericht. | Grobe Mängel bei Menschenrechten attestiert. | Reformtempo gebremst. | Brüssel. Es ist der erste Fortschrittsbericht seit der offiziellen Eröffnung der Beitrittsgespräche mit Ankara am 3. Oktober: Heute, Mittwoch, stellt die EU-Kommission ihre aktuelle Einschätzung der Lage in der Türkei vor. Darin wird der Regierung in Ankara attestiert, dass die Reformen seit dem letzten Bericht im Herbst 2004 an Tempo verloren haben.


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Zwar bestünden "ausreichende" Fortschritte bei der politischen Annäherung an EU-Standards, und eine derzeit funktionierende Marktwirtschaft sei gegeben. Die Liste der Mängel ist jedoch lang. So übe das Militär weiterhin "erheblichen Einfluss" auf die Regierungspolitik aus, der Schutz der Menschenrechte und Minderheiten lasse zu wünschen übrig, und die Beziehungen zum EU-Mitglied Zypern müssten verbessert werden, heißt es in dem der "Wiener Zeitung" vorliegenden Entwurf.

Ins Auge sticht vor allem, dass Folter und Misshandlungen laut Bericht weiterhin "häufig" seien, die Täter oft ungestraft blieben. 1.239 im ersten Quartal des Jahres offiziell erfassten Vorfällen stünden 447 Anklagen gegenüber.

Pressefreiheit weiter nicht gewährleistet

Auch freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit seien trotz neuem Strafrecht nicht gewährleistet. Weiterhin würden Personen wegen geäußerter Ansichten verfolgt und verurteilt. Explizit erwähnt wird der Fall des renommierten türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, der im Dezember vor Gericht gestellt werden soll. Er hatte entgegen der offiziellen Staatslinie im Interview mit einer Schweizer Zeitung einen Völkermord an den Armeniern während des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg für möglich gehalten.

Auch Vereine würden wegen gewaltfreier Aktivitäten unter Druck gesetzt, immer wieder gingen die Sicherheitskräfte mit übertriebener Gewalt gegen Demonstranten vor. Als ein Beispiel wird eine Kundgebung zum Internationalen Frauentag im März in Istanbul angeführt, bei der die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken eingeschritten und "mehrere" Teilnehmerinnen verletzt hat.

Minderheiten müssen geschützt werden

Dringend müsse die Türkei EU-konforme Gesetze zum Schutz von Minderheiten erlassen. Kurdische Sprachkurse würden untersagt, Politiker, die kurdisch sprechen, deshalb verurteilt. Bezüglich der Sicherheitslage im Südosten der Türkei gäbe es "wenig konkrete Fortschritte".

"Ernsthafte Sorge" hegt die Kommission auch wegen der anhaltenden Gewalt gegen Frauen und deren Benachteiligung. Häusliche Gewalt, so genannte Ehrenmorde sowie die hohe Analphabetinnenrate und Arbeitslosigkeit unter Frauen blieben verbreitet. Rund 20 Prozent der weiblichen Bevölkerung könnten weder lesen noch schreiben, nur 24,5 Prozent seien erwerbstätig.

Am unmittelbarsten könnten sich allerdings die gespannten Beziehungen zum EU-Mitglied Zypern auswirken. Zwar hat Ankara Ende Juni seine Zollunion auf die neuen Mitgliedsstaaten inklusive Zypern ausgeweitet, gleichzeitig aber dessen Anerkennung bis zu einer umfassenden Friedenslösung für die geteilte Mittelmeerinsel ausgeschlossen.

Zypern bleibt der

Stolperstein

Die Weigerung der Türkei, zypriotische Schiffe und Flugzeuge ins Land zu lassen, behindere den im Zollabkommen garantierten freien Warenverkehr, heißt es in dem Berichtsentwurf. Für Erweiterungskommissar Olli Rehn ist die Umsetzung des Abkommens jedoch die "rote Linie".

Mit einem Prioritätenplan will die EU-Kommission der Türkei den Weg bei den weiteren Reformen weisen. Und Zypern - das schon im Vorfeld öfters mit einem Veto gegen Gespräche mit der Türkei gedroht hatte - muss bei Eröffnung und Abschluss jedes Verhandlungskapitels zustimmen. Diese Bewährungsprobe steht erstmals nächstes Frühjahr unter österreichischem EU-Vorsitz an.