Oberst Tatzgern spricht mit der "Wiener Zeitung" über die Bedeutung von Wien für Schlepperorganisationen.
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Wien. In einer Seitengasse nahe dem Wiener Praterstern steht ein unscheinbares Gebäude. Die Fassade ist eine Mischung aus weißer, brauner und beiger Farbe. Längliche und rechteckige Fenster reihen sich aneinander. Fadesse ergänzt Tristesse. Im zweiten Stock des so unauffälligen Gebäudes befindet sich die Zentralstelle des Bundeskriminalamtes (BKA) für die Bekämpfung der Schlepperkriminalität und des Menschenhandels.
"Wir können Menschen retten, indem wir verhindern, dass sie sich in Gefahrensituation begeben. Der Erfolg ist immer wieder sichtbar, wenn wir skrupellose Schlepper dingfest machen", sagt Oberst Gerald Tatzgern, der Leiter der Zentralstelle. Er sitzt in seinem geräumigen, mit Topfpflanzen gespickten Büro beim Besprechungstisch. Seit 15 Jahren macht er nun schon seinen Job. Es ist eine kurze Zeitspanne im Vergleich zur Geschichte der Schlepperei. "Für die Schlepper ist die Schlepperei ein scheinbar sehr gewinnbringendes und gefahrenloses Geschäft. Deswegen ist es ein nie endendes Geschäft, das es seit Jahrtausenden gibt."
In der Zentralstelle spinnen der Oberst und seine Mitarbeiter wie Spinnen mühevoll ihre Fäden. Fäden, die - wenn erfolgreich gesponnen - ein Netz bilden, in dem sich eine kriminelle Bande verfängt. Bei Tatzgern laufen all diese Fäden zusammen. Er kennt die Strukturen der Schlepperorganisationen, die Routen, die Rollen der einzelnen Länder und Städte. Etwa die Bedeutung von Wien. "Bei den letzten Verhaftungen hat Wien immer eine große Rolle gespielt", erklärt er. Zwar seien in Österreich nur selten die "absoluten Überbosse" der Schlepperorganisationen präsent, da diese ihr Standbein am Balkan, in der Türkei oder Griechenland haben. "Aber die Filialen, die Schlepper-Splittergruppen: Die gibt es auf alle Fälle in Wien."
Die Hauptstadt diene als Transit- oder Ankunftsort für die Geschleppten. "Wenn Österreich das Transitland ist, fahren die Schlepper rasch weiter nach Deutschland oder die Geschleppten werden in Wien zwischengebunkert, weil der Teilabschnitt erledigt ist. Die Menschen werden dann einige Stunden oder Tage in Wien versteckt. Dann geht es weiter", erklärt er. Die Anonymität in Wien sei verlockend: "Wenn man in Graz mit einem Transporter kommt und dann steigen da 15 Leute aus: Dann fällt das eher auf als in Wien."
"Da macht man eine Zacke"
Nicht nur für Schlepper, welche die Balkanroute benützen, sei Wien ein wichtiger Anknüpfungs- und Organisationspunkt. Auch Schlepper, die aus Italien kommen, würden oft Wien ansteuern. "Das darf man nicht unterschätzen. Es geht nicht alles vom Brenner direkt nach Deutschland. Es werden viele Züge verwendet, die nach Wien gehen und dann von Wien nach Deutschland. Da macht man eine Zacke, weil die Verschleierung besser funktioniert und die Zugverbindungen in Wien vielseitiger sind."
Auch bei einem Kriminalitätsphänomen, mit dem sich jüngst ein Artikel der Fachzeitschrift "Kriminalistik" befasste, gingen viele Schleusungen von Wien aus: In den vergangenen Jahren nutzten Schlepper die im Internet inserierten Mitfahrgelegenheiten für ihre Zwecke.
So reiste etwa ein Münchner Paar 2014 nach Wien. Gegen Entgelt boten sie an, jemanden bei der Rückfahrt im Auto mitzunehmen. Eine unbekannte Person buchte zwei Plätze. Bei den Mitgenommenen handelte es sich um syrische Flüchtlinge. In Bayern wurde das Paar wegen der Einschleusung von Flüchtlingen durch die deutsche Polizei festgenommen. Von den Hintermännern, welche die Fahrt für die Flüchtlinge buchten, fehlte jede Spur.
Der Vorfall löste umfangreiche Ermittlungen in Deutschland und Österreich aus, bei denen auch das BKA involviert war. Schlussendlich wurde laut "Kriminalistik" eine kriminelle Organisation aufgedeckt, die nach eigenen Angaben 600 Schleusungen mit einem Umsatz von 400.000 Euro in sechs Monaten organisierte. Bewiesen werden konnte davon aber nur ein Bruchteil: 47 Schleusungen mit 227 geschleppten Personen.
"Das ist ein gutes Beispiel, ein guter Durchschnittswert. Oft können wir die Schleusungen nicht beweisen", sagt Tatzgern. Die Organisation der Schlepperbanden sei generell sehr vielschichtig: "Es gibt keinen Überboss, der alles unter Kontrolle hat." Einerseits gebe es Kleingruppen von zwei bis vier Personen, die auf schnelles Geld aus seien und rasch entstehen würden. "Anderseits haben wir Ermittlungsverfahren, wo wir 63 Tatverdächtige in einem Netzwerk haben und noch lange kein Ende in Sicht ist."
Schalte man eine in sich geschlossene Gruppe aus, sei diese Gruppe dann auch weg. Handle es sich um eine große Organisation und verhafte man vier Gruppenmitglieder: "Dann dauert es oft nur wenige Tage und die sind ersetzt." Es sei daher sehr wichtig, den Organisationen das Geld wegzunehmen.
Preise ab 4000 Euro
Der Schleppereimarkt sei von Angebot und Nachfrage bestimmt. Je schneller und angenehmer die Schleusung seien soll, desto mehr koste sie. Befinde man sich in der Türkei und schon nahe zur EU, zahle man für eine Schleusung etwa 4000 Euro. Für Kinder gebe es Rabatte. Sei man in der Türkei weiter weg oder in Syrien, koste es mehr. Von Afghanistan aus seien Preise von 8000 bis 15.000 Euro möglich.
"Früher hatten die Leute mehr Geld, vor allem die syrischen Flüchtlinge. Die konnten das bezahlen - auch für die Familienmitglieder. Oft legen Familien in Syrien und Afghanistan auch ihr ganzes Geld zusammen, damit eine Person geschleppt werden kann, auf der all ihre Hoffnungen ruhen. Andere Menschen müssen die Bezahlung wiederum abarbeiten. Deswegen dauert die Schleppung oft Monate. Manchen bleibt nichts anderes übrig, als kriminell und selbst zu Schleppern zu werden."
Nicht alle Schlepper seien zudem "ehrliche" Schlepper. "Es gibt auch seltene Fälle, bei denen die Schlepper jemanden ein paar hundert Meter oder ein paar Kilometer vor der österreichischen Grenze rauslassen. Die Migranten glauben dann, sie sind in Deutschland, weil dort "Deutschlandsberg" (Anm.: Stadt in der Steiermark) steht." Das Unglück der Betrogenen kann mitunter zu einem Glücksfall für die Ermittler werden: "Die Betrogenen sind eher bereit, gegen die Schlepper auszusagen."
Langwierige Ermittlungen
Bis es zu wirklichen Ermittlungserfolgen kommt, kann einige Zeit vergehen: "Sehr selten dauern die Ermittlungen unter einem halben Jahr, oft dauern sie über ein Jahr", sagt Tatzgern. "Es kann ganz banal, mit einem Aufgriff von ein paar Migranten in Österreich beginnen." Durch spezielle Einvernahmen durch die Kriminalpolizei und technische Auswertungen versuche man weiter zu ermitteln. Dann komme der internationale Aspekt ins Spiel. "Wir treten an jene Länder heran, die von der Schlepperei betroffen sein könnten. Wir fragen nach, ob sie Erkenntnisse zu Personen, Telefonnummern oder Autos haben."
Wenn man Informationen erhalte, setze man sich zusammen, lege Ermittlungsansätze auf den Tisch und treffe Vereinbarungen: "Das kann über bilaterale Zusammenarbeit bis zur Gründung eines "Joint Investigation Teams", also einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe, gehen." Zudem trete man an die Staatsanwaltschaften heran und rege etwa die Überwachung einer Telefonnummer an. "Das Wichtigste ist für uns die Kommunikation. Ohne Kommunikation kann ich keine kriminellen Strukturen aufrechterhalten. Das ist meistens ein Mobiltelefon und physische Kommunikation", sagt er. Man observiere und erstelle Bewegungsprofile.
An einem gemeinsamen Aktionstag gebe es in mehreren Ländern dann eine koordinierte Vorgangsweise. "Alle Verhaftungen erfolgen an diesen Tagen. Da schlagen wir zu. Gemeinsam. Wir tauschen oft auch Ermittlungsbeamte aus. Der serbische und deutsche Beamte ist dann in Wien.
Viele Anknüpfungspunkte
Um die internationalen Ermittlungen voranzutreiben, wurde in Tatzgerns Dienststelle das gemeinsame Ermittlungsbüro der "Joint Operation Offices" gegründet. So habe man bei den meisten Verfahren, die die Balkanroute betreffen, Anknüpfungspunkte nach Bulgarien, Serbien, Rumänien, Ungarn, Deutschland und die Türkei. "Es ist uns aber auch wichtig, als Einheit hier in Wien noch weiterzugehen und mit Afghanistan, Pakistan und dem Iran zusammenzuarbeiten."
Da es bei den Ermittlungen immer um Menschen gehe, sei die Arbeit auch sehr nahegehend und belastend. Besonders für jene Mitarbeiter, welche die Migranten stundenlang befragen. "Sie bekommen die familiäre Situation mit und die Faktoren, warum die Menschen ihr Land verlassen. Viele sind traumatisiert, verschuldet, haben keine Chance, hier zu bleiben. Das ist persönlich sehr zermürbend."
"Perspektiven schaffen"
Langfristig müsse man die Schlepperei aber weiter bekämpfen: "Das muss sein, weil die Schlepper sehr sorglos mit den Migranten umgehen. Die Schlepper sind keine Fluchthelfer, weil sie kriminellen Profit auf Kosten der Menschen machen wollen."
Alleine durch Zäune und polizeiliche Maßnahmen könne man die Migration allerdings nicht aufhalten. "Man muss in den Herkunftsländern Perspektiven schaffen. Das geht hin bis zur Trinkwasserversorgung." Die Faktoren - Kriege, Katastrophen, fehlende Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftsprogramme - welche die Menschen aus ihren Ländern wegdrängen, müsse man bekämpfen. Auch habe sich Europa bis dato einfach nicht genug für die intern vertriebenen Menschen interessiert.
"Wenn in Afrika eine Million Menschen in ein anderes Land weitergerückt sind, weil sie nichts mehr in ihrer Heimat haben, haben wir das kaum wahrgenommen." Jetzt werde man hellhörig, da die Migranten an der libyschen Küste seien und Richtung Europa wollen. "Aus der EU heißt es, dass sie in den nächsten zehn bis 20 Jahren mit zehn bis 20 Millionen Afrikanern rechne. Wie soll Europa das verkraften? Das ist ja auch für die Migranten nicht gut."
Bezüglich der durch Außenminister Sebastian Kurz angefachten Debatte, wonach die zunehmenden Rettungsaktionen der NGOs im Mittelmeer zu mehr Toten führen würden, meint Tatzgern: "Ich sage nicht, dass die NGOs schuld sind, aber was ist passiert? Die Punkte, wo die Rettungsmaßnahmen stattfinden, sind in den letzten Jahren immer näher an der libyschen Küste. Das nützen die Schlepper aus und das schürt bei den Migranten Hoffnung."
Obwohl es mehr Rettungsmaßnahmen gebe, würden mehr Menschen ertrinken. "120 Leute steigen in Boote, die nichts mehr können. Die Menschen sagen: "Das geht eh, wir müssen nur zwei Stunden aushalten." Und dann passiert die Katastrophe." Tatzgern plädiert dafür, die Menschen sofort zurückzubringen. "Es muss Camps geben. Die gehören legal nach Österreich gebracht, wenn eine Chance für einen Aufenthalt besteht. Denen, die keine Chance haben, muss man das sagen und sie mit einem Hilfsprogramm unterstützen. Das würde die Schlepperei miniminieren", meint der Oberst.
NGOs "sind keine Taxis"
Die NGOs weisen diese Vorwürfe vehement von sich. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Helfer für Not verantwortlich sind, sagte kürzlich Caritas-Präsident Michael Landau. "Wir werden als Taxis dargestellt, die Flüchtlinge abholen, das ist Blödsinn. Unser Job ist Leben retten, nicht Menschen zu transportieren", erklärte Hans-Peter Buschheuer, Sprecher der deutschen NGO Sea Eye.
Eine Prognose hinsichtlich künftiger Entwicklungen sei nur schwer möglich, sagt Tatzgern. Viel hänge vom weiteren Verhalten der Türkei ab. Gesamt gesehen sei die Schlepperei in Österreich aber rückläufig. Das liege auch daran, dass man durch internationale Kooperationen versuche, die Ermittlungen dorthin zu verlagern, wo die Schlepperei ihren Ausgang nehme.
Auch Zahlen der Staatsanwaltschaft Wien deuten auf einen Rückgang hin (siehe Grafik). Wurden von der Staatsanwaltschaft Wien 2015 noch 867 Anklagen wegen Schlepperei beim Straflandesgericht eingebracht, waren es 2017 bisher erst 17 Anklagen, wobei die Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien, Maria-Luise Nittel meint: "Die Zahlen für 2017 sind noch wenig aussagekräftig."