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"Schleppern die wirtschaftliche Basis nehmen"

Von Klaus Stimeder

Politik

Ruta Nimkar über das Wesen und die Strukturen des Geschäfts mit Migranten und Flüchtlingen - und über Strategien, wie es sich eindämmen lässt.


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Unter den professionellen Entwicklungshelfern, die sich um die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen in armen Ländern bemühen, stellt Ruta Nimkar nicht nur wegen ihres ungewöhnlichen Lebenslaufs eine Ausnahmeerscheinung dar. Die gebürtige Kanadierin mit indischen Wurzeln arbeitet seit über zehn Jahren in leitenden Funktionen im humanitären Bereich, unter anderem in Afghanistan, Iran, Kirgistan, Somalia, Uganda und im Irak. Keine programmierte Karriere: Nach einem Wirtschaftsstudium an der Universität Oxford heuerte Nimkar beim Konzern Royal Dutch Shell an, bei dem sie binnen kurzer Zeit zur Verkaufsleiterin für Frankreich und die Benelux-Länder aufstieg. Weil sie der Job nicht ausfüllte, ließ sie ihre Karriere beim Ölkonzern sausen und entschloss sich nach der Absolvierung eines Masterstudiums für Internationale Beziehungen in Yale für ein Engagement in der Entwicklungshilfe mit Spezialgebiet Migration. Heute führt Nimkar, die neben Englisch und Französisch fließend Russisch und Niederländisch spricht, gemeinsam mit einer Partnerin die Geschäfte der Consulting-Firma Meraki Labs. In diesem Rahmen berät sie seit drei Jahren Regierungen, internationale Organisationen, Universitäten und NGOs zu den Themen Flucht und Migration.

"Wiener Zeitung": Wie kamen Sie auf die Idee, Expertin für Menschenschmuggel werden zu wollen?Ruta Nimkar: Das erste Mal, dass mein Interesse an dem Thema so richtig geweckt wurde, war vor ein paar Jahren in Somalia. Die Leute dort sind traditionell sehr mobil, viele sind Nomaden. Seit der humanitären Krise Anfang der Neunziger gibt es zudem eine große somalische Diaspora, die sich über dutzende Länder verteilt. Wenn man dort arbeitet, lernt man schnell, dass Distanzen für diese Menschen relativ sind. Für viele macht es keinen Unterschied, ob ihre Verwandten und Freunde in einem anderen Teil des Landes oder im Ausland leben. Wenn sie wegen Konflikten oder Dürre das Land verlassen, bekommen sie von Landsleuten entsprechend praktische Hilfe. Diejenigen, die legal eine neue Heimat suchen, erhalten Ratschläge, wie sie am besten ihre Anträge formulieren, um ihre Chancen auf ein Bleiberecht im Zielland zu erhöhen. Den anderen wird erklärt, wie sie an gefälschte Pässe kommen und Ähnliches. Egal, ob sie auf legale oder illegale Weise ausreisen möchten: Die Leute, die diese Ratschläge geben, sind dieselben.

Ist dieses Phänomen auf Ostafrika beschränkt?

Nein, es ist im Grunde weltweit das gleiche. Nehmen Sie das Beispiel Mittel- und Südamerika. Es gibt dort die sogenannten "Kojoten", Schmuggler, die etwa Venezolaner nach Kolumbien schleusen. Jede Kleinstadt hat mindestens einen - aber der springende Punkt ist, dass es sie schon immer gab. In diesem Zusammenhang gibt es keinen Unterschied zu, sagen wir, Äthiopien. Das für mich interessanteste Beispiel ist heute aber Afghanistan. Dort hat der Menschenschmuggel eine Tradition, die in manchen Familien Jahrhunderte zurückreicht. Das klandestine Überschreiten von Grenzen begann für viele von ihnen mit der Organisation von Pilgerfahrten, zum Beispiel für afghanische Schiiten, die nach Najaf wollten (das spirituelle Zentrum des schiitischen Islam im heutigen Irak, Anm.). Während der Sowjet-Besatzung und dem darauffolgenden Bürgerkrieg waren es die gleichen Familien, die dafür sorgten, dass jene Leute das Land verlassen konnten, die der Gewalt entkommen wollten. In weiterer Folge entwickelten sich Netzwerke, die Leute bis nach Europa brachten und bis heute bringen.

Quasi eine organische Entwicklung.

Genau. Ich kenne Familien, wo der Urgroßvater, der Großvater, der Vater und heute der Sohn als Menschenschmuggler arbeiten. Sie sind stolz auf das, was sie machen - aus ihrer Sicht helfen sie Menschen.

Müssen wir ändern, wie wir im Westen über das Thema Menschenschmuggel denken und reden?

Ja. Der Druck auf die Menschen, aus Krisengebieten wegzuziehen, ist enorm. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten, legal zu emigrieren, immer begrenzter. Wir bauen heute Mauern und sperren Migranten ein, in der Hoffnung, dass sie das abschreckt und den Schmugglern das Wasser abgräbt. Die grundsätzlichen Annahmen dahinter sind einerseits, dass die Schmuggel-Netzwerke eine mehr oder weniger monolithische, kohärente Struktur haben. Andererseits, dass durch die Kriminalisierung der Migranten bei ihnen wie bei den Daheimgebliebenen die Einsicht einkehrt, dass sie etwas Falsches machen, für das sie bestraft werden.

Beide Ansätze ignorieren aber drei wichtige Aspekte: Warum Menschen emigrieren, wie tief verwurzelt die Kultur des Menschenschmuggels in manchen Ländern ist und den mikroökonomischen Teil des Geschäfts. Diese Art von Schmuggel hat meistens nichts mit jener Art von organisierter Kriminalität zu tun, die wir aus Mafia-Filmen kennen. Der überwältigende Teil des Geschäfts besteht aus vielen kleinen, lose verbundenen Netzwerken. Ein Taxifahrer aus Kabul, der jemanden in den Iran bringt, verdient vielleicht 50 Dollar. Der Visa-Fixer, an den er seinen Kunden weiterreicht und der dafür sorgt, dass er es über die Grenze zur Türkei schafft, verdient auch nicht mehr. Gegen diese Strukturen helfen keine Mauern, weil sie nichts an den mikroökonomischen Ursachen ändern, die die Teilnahme am Menschenschmuggel für diese Helfer so attraktiv macht.

Wie kann man ihm trotzdem den Boden entziehen?

Indem man den Schmugglern die wirtschaftlichen Grundlagen ihres Geschäfts entzieht und indem man legale, sichere Fluchtrouten schafft.

Und wie soll das funktionieren?

Migranten bewegen sich zu jedem Zeitpunkt ihrer Reise von einem Punkt A zu einem Punkt B. Das kann Tage, Wochen, manchmal Monate dauern. Schmuggler müssen ihre Kunden die ganze Zeit über mit Zugang zum Nötigsten versorgen: Wasser, Essen, Unterkünfte et cetera. Das alles kostet Geld - und wenn man diesen Prozess konsequent an jenen Orten verteuert, die als Knotenpunkte des internationalen Menschenschmuggels dienen, schießen automatisch die Kosten nach oben. Der Effekt: Die meisten Leute können sich diese Reise schlicht nicht mehr leisten und treten sie deshalb gar nicht erst an. Vergessen Sie nicht: Das Wissen darüber, wie viel die Reise kostet, spricht sich unter Migrationswilligen überall auf der Welt hundertmal schneller herum als jede andere Information.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: die Provinz Nimruz, die an der Grenze zwischen Iran und Afghanistan liegt. Von dort kann man ein Taxi nehmen und man ist in Nullkommanichts im Iran. Bis die Taliban wieder die Macht übernahmen, flossen Milliarden Dollar in den Wiederaufbau Afghanistans. Orte wie Nimruz sahen davon kaum etwas - genauso wie viele andere Gemeinden an der Peripherie, die heute als Zentren des Menschenschmuggels gelten. Wenn man Geld in diese Regionen steckt, sie attraktiv für andere Geschäftsfelder macht und damit die regionale Wirtschaft verteuert, entzieht man den Schmugglern langfristig ihre Geschäftsgrundlage.

Klingt ein wenig zynisch.

Mag sein, aber die Alternative - zu versuchen, die sozialen Normen in den Herkunftsländern zu ändern - ist enorm schwierig. Ein Kollege von mir hat im Rahmen eines universitären Forschungsprojekts Migrationswillige in Nepal untersucht. Die Annahme war, dass sie die Risiken der Reise unterschätzen. Als Ergebnis kam heraus, dass das Gegenteil der Fall ist: Sie sind sich der Gefahren nicht nur bewusst, sondern überschätzen sie sogar. Was viele nicht davon abhält, die Reise anzutreten, wenn sie nur irgendwie leistbar erscheint.

Was dazu kommt: Diese Leute sind alles andere als dumm. Meiner Erfahrung nach kennen Migrationswillige aus aller Herren Länder das System und seine Schwachstellen ganz genau und wissen entsprechend, wie sie es ausnützen können. Eine andere Alternative wäre die Öffnung legaler Migrationswege in die EU, aber in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren ist die europäische Migrationspolitik sehr restriktiv geworden.

Das Geld, das eine Reise kostet, übersteigt das durchschnittliche Jahreseinkommen im jeweiligen Herkunftsland oft um ein Vielfaches. Spricht die Tatsache, dass manche Migrationsrouten schon jetzt extrem teuer sind, nicht gegen Ihre These?

Klar, soziale Aspekte wie Gruppendruck spielen auch eine Rolle. Jemanden auf eine Reise zu schicken, stellt oft eine soziale Investition dar, die von der ganzen Familie und darüber hinaus finanziert wird. Das Problem: Sogar die, die es zum Beispiel aus Afghanistan nach Europa schaffen - meistens junge Männer, weil man es ihnen am ehesten zutraut -, haben es extrem schwer, weil sich ihre Verwandten und alle anderen, die zur Finanzierung beigetragen haben, darauf verlassen, dass sie nachgeholt werden. Passiert das nicht, können diese jungen Männer de facto nicht mehr zurück, weil sie dem halben Dorf Geld schulden. Aber auch dabei handelt es sich nicht um ein lokales Phänomen. Derselbe Mechanismus greift in Äthiopien für Leute, die in die Golfstaaten wollen. Ich war dort an einem Forschungsprojekt beteiligt, im Rahmen dessen wir Interviews mit Migranten führten, die mit leeren Händen zurückgekehrt waren. Ich gebe es offen zu: Ich hatte total unterschätzt, wie übel ihnen das ihre Angehörigen nahmen. Sätze wie "Mein Sohn ist ein Verlierer, der Schande über die Familie gebracht hat" waren noch das Harmloseste.