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"Schlimmer als die Amerikaner"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Falludschas Bewohner begehren gegen die Übermacht der Schiiten auf.


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Falludscha. Der "neue Saddam" steht in Lebensgröße vor der Einfahrt nach Falludscha. Doch eine Ähnlichkeit mit dem vor fast zehn Jahren gestürzten Diktator lässt sich beim besten Willen nicht ausmachen. Während sich Saddam Hussein stets mit erhobenem Haupt, geschwellter Brust und in Siegerpose abbilden ließ, wirkt Nuri al-Maliki gedrungen, geradezu schüchtern. Die zusammengekniffenen Augen hinter der Krankenkassabrille wirken gequält und nicht gerade zuversichtlich. Ein Lächeln ist ihm fremd. "Doch der Schein trügt", behauptet Scheich Saadon Talb El Jumeili, der die Besucher am Kontrollpunkt abholt und sie in die Stadt begleitet. "Er ist ein Wolf im Schafspelz."

Noch immer ist Falludscha nicht frei zugänglich. Wer niemanden kennt, der dort wohnt oder arbeitet, bleibt vor den Toren der Stadt stecken. Denn seit Wochen proben die Bewohner Falludschas den Aufstand gegen ihren Regierungschef in Bagdad, der als Poster am Kontrollpunkt steht. Der Scheich sieht dies als Provokation: "Damit will Maliki zeigen, wer hier der Herrscher ist."

Zunächst haben die Leute von Falludscha gegen die Amerikaner gekämpft, nachdem diese am 20. März 2003 in den Irak einmarschiert waren. Dann gegen die internationale Terrororganisation Al-Kaida und jetzt gegen ihren Premierminister. Und das alles in nur einer Dekade.

Doch nicht nur in Falludscha gehen die Menschen derzeit gegen Premier Maliki auf die Straßen. Im benachbarten Ramadi und in anderen Orten der Provinz Anbar, in Kirkuk, Mosul und Tikrit im Norden, in der Provinz Dijala und in Bagdad versammeln sich Tausende zumeist nach den Freitagsgebeten, um zu protestieren. Es brodelt im Irak - vor allem in der Nordhälfte. Doch in Falludscha sind die Proteste am heftigsten, am besten organisiert - und am tödlichsten. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert, dass der von Parlament und Regierung in Bagdad zugesagte unabhängige Untersuchungsbericht über den Tod von neun Demonstranten in Falludscha Ende Januar bis heute nicht veröffentlicht wurde. "Für die irakischen Institutionen scheint es auszureichen, einen Bericht lediglich anzukündigen, wenn Sicherheitskräfte gegen Protestierer vorgehen", sagt Joe Stork, HRW-Direktor für den Mittleren Osten.

Seitenwechsel der Patrioten

Scheich Saadon bittet zum Frühstück in das Haus seines Neffen am Stadtrand. Es sei damals ein Treffpunkt der Widerstandsbewegung gewesen. Hier habe er sich mit dem berühmt gewordenen Scheich Abu Risha aus Ramadi getroffen, als sie beschlossen, gegen Al-Kaida vorzugehen, weil die immer mehr Zivilisten und Mitglieder des irakischen Widerstands mit ihren Bomben getötet haben. "Das konnten wir nicht zulassen." Als US-General David Petraeus Ende 2006 die Stämme in der Provinz Anbar um Hilfe im Kampf gegen Al-Kaida bat, sei das Abrücken von der Terrororganisation schon beschlossene Sache gewesen. Die Allianz mit den US-Truppen wurde zum Zweckbündnis. Von den Amerikanern bekamen sie Waffen und Geld. Die Scheichs nannten die Allianz Sahwa - Erwachen. Die Amerikaner erfanden den blumigen Namen "Söhne Iraks" für die zumeist sunnitischen Widerstandskämpfer, die zuvor gegen US-Soldaten und alle, die mit ihnen verbündet waren, Sprengsätze und Bomben gezündet hatten und nun gegen Al-Kaida zu Felde zogen. Abu Risha hat für seinen Seitenwechsel mit dem Leben bezahlt und auch Saadon El Jumeili konnte sich nur noch mit schwer bewaffneten Leibwächtern bewegen.

Der Scheich nimmt im Schneidersitz auf dem mit Teppichen ausgelegten Empfangszimmer Platz und schlägt die beiden Enden der traditionell rot-weiß karierten Kopfbedeckung zurück. Seine milden, nachdenklichen Gesichtszüge lassen nur schwer glauben, dass dieser 57-jährige Mann einmal einer der Drahtzieher des irakischen Widerstands war, dessen Aktionen hunderte von US-Soldaten das Leben kostete. "Wir sahen den Widerstand gegen die Besatzer als unsere patriotische Pflicht als Iraker an", rechtfertigt er seine Taten. "Doch er war nicht sehr hilfreich" räumt der Scheich im Nachhinein ein. "Er hat Al-Kaida die Tür geöffnet."

Schiiten-Terror

Das könnte jetzt wieder passieren, meint sein Neffe, Masoud El Jumeili. Er ist 30 Jahre alt und Polizist in Falludscha. "Es ist einfach für extremistische Kräfte, hier wieder Fuß zu fassen." Brutal und rücksichtslos gehe die irakische Armee gegen Zivilisten vor, "schlimmer noch als die Amerikaner am Anfang, vor der Sahwa", meint Masoud, als Massenverhaftungen von potenziellen Saddam-Loyalisten die Gefängnisse füllten und die Folterfotos von Abu Ghreib um die Welt gingen. Als Hochburg sowohl des irakischen Widerstands als auch Al-Kaidas wurde Falludscha vermehrt zur Zielscheibe amerikanischer Angriffe. Doch die Haltung gegenüber den USA hat sich inzwischen selbst in Falludscha geändert: Aus dem offenen, aggressiven Hass auf die Besatzer ist ein gewisser Respekt erwachsen. Die US-Soldaten seien gezielt auf die Feinde zugegangen, während die irakische Armee jetzt willkürlich und planlos um sich schlage, begründet Masoud den Meinungsumschwung. "Die Amerikaner waren objektiv, haben sich auf keine Seite gestellt." Jetzt sei die Armee zur schiitischen Hausmacht Malikis verkommen.

"Maliki spaltet das Land"

Da der Posten des Verteidigungsministers seit drei Jahren nicht besetzt ist, baut er die Streitkräfte nach seinem Gutdünken um. Während die Polizisten in Falludscha alle sunnitische Einheimische sind, seien die Soldaten um Falludscha herum Schiiten. Das zeigen sie auch deutlich. Auf den 60 Kilometern von Bagdad nach Falludscha sind die meisten Militärposten mit schwarzen Fahnen und dem Konterfei des Schiiten-Begründers Imam Hussein geschmückt. "Maliki spielt die sektiererische Karte. Er versöhnt nicht, er spaltet", sagt Masoud und sein Onkel Saadon nickt zustimmend. Der leiseste, oft unbegründete Terrorverdacht führe zu willkürlichen Verhaftungen. Die Opfer sind meist Sunniten. Werden die Männer bei Razzien nicht angetroffen, nehmen sie die Frauen mit. Folter und Diskriminierung seien an der Tagesordnung. Aus diesem Grund hätten die Demonstrationen in Falludscha angefangen. Wie die berühmten Mütter der Plaza del Mayo in Argentinien fragten Frauen von Falludscha mit Fotos in der Hand nach ihren Männern, Vätern, Brüdern oder Söhnen. Viele hätten sich damals beschwert, dass Saddam Hussein ihnen die Würde genommen hätte. Aber Maliki sei keinen Deut besser. Das sagt nicht nur Masoud El Jumeili, der Polizist aus Falludscha. Auch sein Namensvetter, Kurdenführer Masoud Barzani, nennt Maliki einen Diktator. Und selbst Malikis Vize Saleh al-Mutlak will diktatorische Züge bei seinem Chef erkannt haben. Dafür wurde er kurzerhand aus dem Kabinett entlassen, nach langen Diskussionen und viel Getöse aber wieder aufgenommen. Inzwischen hat der Premier selbst in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al-Arabija zugegeben, dass er eine Diktatur für besser halte als Chaos.

Vom Haus des Scheichs zum Demonstrationsplatz ist es nicht weit. Man braucht nur ein Stück die vierspurige Hauptstraße hinunterzufahren und sieht schon die alten Fahnen, die noch aus der Saddam-Ära stammen. Ansonsten ist Falludscha weitgehend wiederhergestellt. Von der fast völligen Zerstörung durch die beiden Militäroperationen der US-Armee 2004 ist nicht mehr viel zu sehen. Nur vereinzelt weisen Gebäude noch Einschusslöcher auf. Neue Restaurants und Cafés sind entstanden oder alte haben neue Fassaden bekommen. Iraks bekanntestes Kebab-Restaurant, Haje Husaen, hat jetzt eine knallrote Leuchtschrift. Das markanteste Zeichen des Wiederaufbaus aber ist der Neubau des städtischen Krankenhauses, das ebenfalls an der Straße nach Bagdad liegt. Doch Gebäude lassen sich schneller wiederherstellen als Menschen. Die Ärzte des Hospitals kämpfen einen erbitterten Kampf gegen die Kriegsfolgen. Die Krebsraten und Deformationen von Neugeborenen nehmen drastisch zu. Woher dies komme, könne sie nicht sagen, gibt sich eine Gynäkologin zurückhaltend. Deutlicher wird ihre Kollegin Samira Alani, die Haarproben von Patienten untersuchte und in der Fachzeitschrift "Medical Iraq" eine Studie veröffentlichte. Die Kinderärztin macht darin den Einsatz von Uranmunition für die Häufigkeit der Erkrankungen verantwortlich; die Proben enthielten hohe Konzentrationen von Quecksilber, Uran, Bismuth und anderen schädlichen Substanzen.

14 Forderungen an Premier

Im Zentrum Falludschas wird derweil demonstriert. 14 Forderungen hat die Protestbewegung aufgestellt, informiert Scheich Khaled Hamood unter wehenden irakischen Fahnen, die noch die drei Sterne der panarabischen Baath-Partei tragen. Am Ende stehe der Rücktritt Malikis. Mit dem Mikrofon in der Hand steht der Greis mit dem weißen Rauschebart auf der Bühne und peitscht ein. Ja, es seien zwar einige Gefangene freigelassen worden, wie sie gefordert hätten. Aber man habe inzwischen wieder genauso viele neu verhaftet. Ja, Maliki habe die Bezahlung der Sahwa-Kämpfer versprochen, aber bis jetzt sei kein Geld angekommen. "Maliki ist ein Lügner", hallt es unisono auf dem Demonstrationsplatz, der von diversen Zelten eingerahmt ist. Ihren Protest nennen sie Intifada und er soll helfen, den demokratischen Prozess wieder auf den Weg zu bringen. Was nach Maliki geschehen soll? Der Scheich denkt kurz nach. "Wir werden eine Regierung mit Technokraten bilden. Eine, die für die Iraker und nicht aus purem Eigennutz regiert wie die jetzige Truppe."