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Schlüssel im Grönlandeis?

Von Wolfgang Kappler

Wissen

"Erzähle mir die Vergangenheit und ich werde die Zukunft erkennen". Zu wem auch immer der chinesische Philosoph Konfuzius diese Worte vor 2.500 Jahren sprach, ein Klimaforscher war es ganz bestimmt nicht. Doch gerade diese Zunft von Wissenschaftlern hat die konfuzianischen Worte verinnerlicht. Acht Sommer lang haben Polarforscher aus neun Nationen gebraucht, um mit selbst entwickeltem Spezialgerät das über drei Kilometer dicke Inlandeis Nordgrönlands bis auf den Grund zu durchbohren. Der so gewonnene 3.085 Meter lange Eisbohrkern erzählt nun erstmals lückenlos die Klimageschichte der nördlichen Hemisphäre über einen Zeitraum von unvorstell- | baren 123.000 Jahren. Daraus, so die Forscher, lassen sich Schlussfolgerungen zur künftigen Klimaentwicklung ziehen.


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Die jetzt durch das NGRIP-Projekt (North Greenland Ice Core Project) dokumentierte Klimageschichte beginnt - und das ist das Einzigartige - rund 8.000 Jahre vor dem Einsetzen der letzten Eiszeit, im sogenannten Eem. Dieser Name steht für eine Periode, in der es um einige Grade wärmer war als heute. Zum Ende dieser Warmzeit gingen die Temperaturen über einen Zeitraum von einigen tausend Jahren in kaum spürbaren Schritten so weit zurück, dass die Eismassen wachsen konnten und schließlich während der Würm-/Weichseleiszeit weite Teile Europas unter sich begruben. Wie sich die Temperaturen zwischen Eem-Periode und Eiszeit veränderten, lässt sich genau an den Bohrkernen erkennen, die jeweils dreieinhalb Meter lang sind und einen Durchmesser von zehn Zentimetern haben.

Der jährlich auf die Oberfläche der Eisdecke fallende Schnee bildet Schichten, die nach und nach vom Schnee der Folgejahre überdeckt werden. Mit zunehmender Tiefe werden die Schichten zu Eis gepresst in dem Luftblasen, Spurenstoffe wie Seesalz, Mineralstaub und Aerosole vulkanischen Ursprungs konserviert sind. Die Analyse des geschichteten Eises ermöglicht den Forschern Einblicke in das Klima vergangener Jahrtausende. Gelingt es ihnen damit, herauszufinden, was genau zu den einstigen Klimaveränderungen geführt hatte, hätten sie einen wichtigen Schlüssel zur Vorhersage des künftigen Klimas in Händen. Denn derzeit streiten die Experten noch immer darüber, ob der globale Temperaturanstieg der jüngsten Vergangenheit letztlich tatsächlich durch den Menschen mitverursacht ist, oder ob dessen Einfluss vernachlässigbar gering ist. Aus diesem Widerstreit resultieren beispielsweise Horrorszenarien von einer verbrannten Erde.

Der nun durch das NGRIP-Projekt möglich gewordene Vergleich zwischen den Umweltbedingungen der Eem-Periode und der Jetztzeit lässt aber offensichtlich den Schluss zu, dass selbst eine wärmere Klimaperiode als heute im Verlauf mehrerer tausend Jahre in eine neue Eiszeit übergehen kann. Neben neuen Erkenntnissen zu den klimatischen Bedingungen vor der letzten Eiszeit erwarten die Wissenschaftler aus Dänemark, Deutschland, Japan, USA, Schweiz, Frankreich, Schweden, Belgien und Island auch Hinweise auf frühes Leben, bevor das Eis Grönland bedeckte.

An der Basis der 3.085 Meter dicken Eisdecke schmilzt das Eis. Als im letzten Jahr das Bohrgestänge das Grundgestein erreichte, flutete deshalb Wasser in die untersten 45 Meter des Bohrloches. Da das rötlich gefärbte Grundwasser praktisch seit Beginn der letzten Eiszeit von der Oberfläche isoliert war, enthält es möglicherweise organisches Material exotischer Lebensformen oder Überreste frühen Lebens. Das wieder gefrorene Grundwasser wurde in diesem Sommer erfolgreich durchbohrt, die gewonnenen Eisbohrkerne werden derzeit untersucht. Neben Dänemark ist Deutschland Hauptfinanzierer des sieben Mio. Euro teuren NGRIP-Projektes.

Eine wesentliche Vorarbeit haben dabei Wissenschaftler um Prof. Heinz Miller vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven geleistet, die durch Untersuchungen des Inlandeises maßgeblich an der Festlegung der Bohrstelle beteiligt waren. Von deutscher Seite nimmt auch das Institut für Umweltphysik der Universität Heidelberg am NGRIP-Projekt teil, das vom Niels Bohr Institut der Universität Kopenhagen organisiert wird. Die aktuellen Projektergebnisse wurden in am 9. September in "Nature" veröffentlicht.