Ein mutiertes Gen bewirkt Schmerzunempfindlichkeit mit dramatischen Konsequenzen.
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Wien. Schmerz, lass nach, lautet in der Regel das Stoßgebet jener, denen etwas wehtut. Wer aber nie Schmerzen empfindet, hat keineswegs das große Los gezogen. Denn bei diesen Personen werden Krankheiten und Verletzungen häufig nicht oder erst sehr spät diagnostiziert. Verantwortlich für Schmerzunempfindlichkeit ist eine seltene angeborene Genmutation, der nun ein internationales Forscherteam auf die Spur gekommen ist. An der gerade im Fachblatt "Nature Genetics" publizierten Studie sind Vertreter der Universitäten Cambridge und München sowie der MedUni Wien beteiligt.
Für die Schmerzempfindung ist das Gen PRDM12 maßgeblich. Mutationen in diesem Gen bewirken offenbar eine fehlerhafte Entwicklung von Nervenzellen, die für das Wahrnehmen von Schmerzen entscheidend sind. Zu dieser Entdeckung gelangten die Forscher durch zwei nicht miteinander verwandte Kinder, die eines gemeinsam hatten: Sie empfanden von Geburt an keinerlei Schmerzen.
Aus Sicht von Michaela Auer-Grumbach, gemeinsam mit Ya-Chun Chen (Cambridge) Erstautorin der Studie, ist das kein Segen: "Die betroffenen Kinder fallen meist zum Zeitpunkt des Durchbruchs der ersten Zähne dadurch auf, dass sie sich selbst an Zunge, Lippen und Fingern verletzen, ja sogar Teile davon abbeißen. Auch kommt es sehr leicht zu Knochenbrüchen, die wegen des fehlenden Schmerzempfindens oft über längere Zeit unbemerkt bleiben."
Veranlagung muss von beiden Elternteilen kommen
Michaela Auer-Grumbach leitet an der Orthopädischen Universitätsklinik am AKH Wien - deren Vorstand Reinhard Windhager zu den Mitautoren der Studie zählt - die neuromuskuläre Fußambulanz. Sie definiert die sehr selten auftretende angeborene Schmerzunempfindlichkeit als eine "autosomal rezessiv" vererbte Erkrankung: "Das bedeutet, dass die Veranlagung dafür von beiden Elternteilen kommen muss."
Wegen der fehlenden Schmerzwarnung bleiben bei Betroffenen Verletzungen, Verbrennungen und Knochenbrüche oft lange unbemerkt und heilen dann nur schlecht. Es kann zu Komplikationen kommen, ohne rechtzeitige und adäquate medizinische Betreuung sogar mit tödlichen Konsequenzen.
Durch eine Analyse des gesamten Exoms der Kinder - also aller Abschnitte der Erbsubstanz, die Proteine verschlüsseln - konnten die Wissenschafter in beiden Fällen Mutationen im Gen PRDM12 feststellen. "Der Nachweis von Mutationen in demselben Gen bei zwei Personen aus verschiedenen Familien mit sehr ähnlichem Krankheitsbild war bereits ein starker Hinweis, dass wir hier das verantwortliche Gen entdeckt hatten", erklärte Jan Senderek vom Friedrich-Baur-Institut der Universität München.
Von der Arbeitsgruppe von Geoffrey Woods von der Universität Cambridge kam dann der endgültige Beweis - auch dieses Team konnte PRDM12-Mutationen bei Patienten mit angeborener Schmerzlosigkeit nachweisen. Die Untersuchung weiterer Betroffener ergab fast ein Dutzend verschiedener Mutationen, die PRDM12 funktionslos werden lassen. Dass der Verlust von PRDM12 zur fehlerhaften Entwicklung von Nervenzellen führt, die für die Schmerzwahrnehmung wichtig sind, zeigten auch Versuche an Froschlarven in Kooperation mit den Entwicklungsbiologen Tatsuo Michiue und Shinya Matsukawa von der Universität Tokio.
Michaela Auer-Grumbach resümiert: "Die Entdeckung der Ursache der Erkrankung ermöglicht die gezielte genetische Diagnostik und Beratung betroffener Patienten und ihrer Familien." Auch wenn es noch keine Therapie gibt, können durch unterstützende Maßnahmen die Gefahren für die Patienten vermindert werden.
Zwanzig Prozent leiden an chronischen Schmerzen
Ein weit häufigeres Phänomen wird am 5. und 6. Juni bei den 12. Kremser Tagen der Donau-Universität Krems unter dem Titel "Schmerz, lass nach" diskutiert - chronische Schmerzen, an denen laut Aussendung der Kremser Uni bereits jeder Fünfte leidet. Christoph Pieh vom Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Kremser Uni verweist darauf, dass in den USA wegen chronischer Schmerzen im Jahr Kosten von rund 600 Milliarden US-Doller anfallen, etwa doppelt so viel wie aufgrund kardialer Erkrankungen.