Deutsche lieben Regeln, Österreicher haben einen besseren Blick für Auswege.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kürzlich war ich in meinem Lieblingscafé im 6. Wiener Bezirk zum Frühstücken. Es war halb acht, mich eingeschlossen verteilten sich drei Leute über den geräumigen Saal. Bis ein älterer Herr hineinkam und sich direkt neben mich setzte. Ich verwies freundlich darauf, dass dieser Tisch wegen der Abstandsregeln blockiert sei, und fragte, ob er sich nicht an einen der vielen freien Plätze setzen könnte.
Keineswegs. Er beugte sich noch näher und nahm die Maske ab, um mir zu erklären, dass er seit 15 Jahren morgens an diesem Tisch sitze. Ich verwies sinngemäß darauf, dass mich in einer Jahrhundertkrise die schiere Gewohnheit als Argument nicht überzeuge; überdies stehe ein Verbotsschild auf seinem Tisch. "Na, wenn das Ihr Problem ist", seufzte der Herr und versetzte das Schild auf die Fensterbank.
Ich bin nicht auf den Mund gefallen, aber da war ich sprachlos.
In vielen Gesprächen, die ich in den vergangenen Wochen über die deutschen Reisewarnungen geführt habe, bin ich gefragt worden, wie man auch abseits dieser Regeln zurechtkomme, ob das überhaupt kontrolliert oder bestraft werde. Wiener könnten doch auf der Bahnfahrt nach Deutschland eine zweite Fahrkarte ab St. Pölten lösen, Flugzeuge höben eh im niederösterreichischen Schwechat ab. Ich habe viele Tricks gelernt.
Meistens erläuterte ich dann die Regularien und die Strafen, gelegentlich aber warf ich auch die Frage auf, ob man Regeln nicht einfach im gemeinschaftlichen Interesse einhalten sollte. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass dem österreichischen Gesprächspartner dann die Worte fehlten - ob meiner Naivität?
Vielleicht kann man diesen kleinen Unterschied zwischen unseren beiden Völkern so pointieren: Deutsche lieben Regeln, Österreicher haben einen besseren Blick für die Auswege. Beides hat eine Menge für sich, und wie das so oft bei Unterschieden ist: Man kann sich daran reiben; besser ist es, sich beim jeweils anderen etwas abzuschauen. Und statt zu grollen eher zu schmunzeln.
Deshalb hier noch die folgende Anekdote: Vorige Woche ist eine sehr gute Freundin mit dem Auto von Wien nach Berlin gefahren. Sie meldete sich - ganz brave Deutsche - am Hauptbahnhof zum kostenlosen Corona-Test für Einreisende aus Risikogebieten. Der dortige Mitarbeiter reagierte streng: Wie sie denn beweisen könne, dass sie aus Wien komme? Wenn sie keine Wiener Meldebescheinigung oder ein aktuelles Urlaubsfoto vorweise, werde sie nicht getestet - streng nach Vorschrift.
Wie hätten Sie reagiert?