Zum Hauptinhalt springen

Schmutziger Brexit - Selbstschwächung des Westens

Von Florian Hartleb

Gastkommentare
Florian Hartleb ist ein international ausgewiesener deutscher Politikwissenschafter und -berater. Derzeit lebt er in Tallinn (Estland).

Es scheint, das "annus horribilis" 2016 findet nahtlos seine Fortsetzung - und das unmittelbar vor den Wahlen in drei EU-Gründungsstaaten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Theresa May werde Rosinenpickerei betreiben, dachten die Verantwortlichen in Brüssel nach dem Brexit-Referendum. Ihre lange erwartete Grundsatzrede spricht nun eine ganz andere, unmissverständliche Sprache: Die neue "Eiserne Lady" geht voll auf Konfrontation und will einen harten Schnitt. Sie will sich nicht einmal an der Schweiz und Norwegen orientieren, sondern alle rechtlichen Bindungen fast radikal kappen. Ob Strategie oder Planlosigkeit aus Verzweiflung: Der harte Brexit bedeutet einen Austritt aus dem Binnenmarkt. Nicht nur das: Die Briten wollen sich nicht mehr an die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs binden lassen. Damit können sie wieder eine nationale Handelspolitik betreiben und müssen sich nicht mehr an die Personenfreizügigkeit halten. Starker Tobak in turbulenten Zeiten.

Der künftige US-Präsident Donald Trump huldigt dem Brexit und prophezeit die Auflösung der EU. Der verbale Tiefschlag des Box- und Wrestlingfans trifft Europa unvorbereitet. Bitter auch: Der Twitter-Präsident kennt die Funktionsweisen der EU gar nicht, zeigt sich aber von der britischen Trotzigkeit beeindruckt, zumal er eine Freundschaft zu Nigel Farage, der treibenden Kraft hinter der "Leave"-Proganda, pflegt.

Wer beachtet da noch die Wahl eines neuen EU-Parlamentspräsidenten, den ohnehin keiner kennt? Es scheint, das "annus horribilis" 2016 findet nahtlos seine Fortsetzung - und das unmittelbar vor den Wahlen in den EU-Gründungsstaaten Niederlande, Frankreich und Deutschland. Die EU kann TTIP ebenso ad acta legen wie die Hoffnung auf einen sanften oder doch gar keinen Brexit. Nun gilt die Warnung des Labour-Abgeordneten David Ennals in der Austrittsdebatte beim Referendum 1975: Aus einem Rührei lässt sich kein ganzes Ei mehr machen. Damals ging es gut aus. Vier Jahrzehnte später ist alles anders. Ob es die EU tröstet, dass sich Großbritannien selbst schädigt? Eine Ausreisewelle junger, qualifizierter Briten, die ja in der EU bleiben wollten, setzt bereits ein, die Fremdenfeindlichkeit nimmt bedrohlich zu. Eine polarisierte Gesellschaft droht, die den Status der Weltoffenheit verliert. Die Insel könnte Investoren aus der EU und Asien verlieren, dem Finanzplatz London droht der Abstieg. Das Pfund stürzt bedrohlich ab.

Das alles kann nur ein schwacher Trost sein: Die europäische Gemeinschaft verliert den nach Deutschland zweitgrößten Nettozahler. Nun wird wohl Deutschland einmal mehr in die Bresche springen. Ein schmutziger, langwieriger Scheidungskrieg zwischen der EU und Großbritannien zeichnet sich ab. Zwischen Trump und May wird es hingegen bald eine neue Allianz geben, EU-feindlich, zumindest euroskeptisch angelegt. Und dann sind da noch Europas Rechtspopulisten, die sich an Wladimir Putin anschmiegen. Historiker können schon ein Kapitel über diese neuen düsteren Zeiten schreiben: die selbst verschuldete Selbstschwächung des Westens. Wer denkt da noch an die ambitionierten Lissabon-
Ziele von 2000, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen? Und: Was sind angesichts der dramatischen Entwicklungen eigentlich die neuen Leitideen für eine EU ohne britische und amerikanische Verbündete?