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Die Geschwindigkeit, mit der Menschen leben, hängt von kulturellen Gegebenheiten ab, sagt der Sozialpsychologe Robert Levine. Er befasst sich mit vielerlei kulturellen Zeitphänomenen, dem Tempo von Fußgängern, der Kultur des Zuspätkommens oder dem zeitlichen Rhythmus, in dem sich Liebespaare einander annähren.
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Das Buch, in dem Robert Levine von der Universität in Fresno, Kalifornien, seine Studien über Unterschiede im kulturellen Zeitgefühl zusammenfasst, trägt den Titel "Eine Landkarte der Zeit". Ausgangspunkt dieser Arbeit waren, wie er sagt, die Jahre, die er als Gastprofessor in Brasilien verbrachte. Es begann schon an dem Tag, an dem er zu seiner ersten Seminarstunde eilte, die um 10 Uhr beginnen sollte. Als er an der Universität eintrifft, sieht er eine Uhr, die 10 Uhr 20 zeigt. Panisch läuft er in Richtung Seminarraum, vorbei an gemächlich schlendernden Studenten, von denen sich herausstellen sollte, dass es die seinen waren. Als er ein paar der Umstehenden nach der Zeit fragt, erhält er im Ton freundlicher Gelassenheit widersprüchliche Auskünfte: 9 Uhr 45, 9 Uhr 55, 9 Uhr 43 - zugleich zeigt die Uhr im Büro 15 Uhr 15. Als das Seminar schließlich, seiner eigenen Uhr zufolge, endlich um 11 Uhr beginnt, treffen immer noch Studenten ein, die offenbar keineswegs das Gefühl haben, zu spät zu kommen. Allerdings machten gegen 12 Uhr, als die Unterrichtsstunde zuende sein sollte, nur wenige Studenten Anstalten zu gehen. Das Seminar ging noch eine Weile weiter und bröckelte dann langsam ab.
Aus der Verwirrung, die das Lebenstempo der Brasilianer bei dem Professor aus den USA verursachte, entstand ein Lebenswerk, das um die Idee kreist, Zeitvorstellungen verschiedener Kulturen miteinander zu vergleichen. Eine seiner Studien zielt zum Beispiel darauf ab, Unterschiede im Lebenstempo in Zahlen fassbar zu machen. Nach vielen Versuchen entstand ein eigenwilliges Messsystem, das auf 31 Länder dieser Erde angewandt wurde. Anhand von drei Indikatoren soll die kulturelle Geschwindigkeit verglichen werden: Die Geschwindigkeit, mit der Fußgänger in der Innenstadt eine Strecke von zwanzig Metern zurücklegen, die Zeit, die ein Postangestellter am Schalter braucht, um eine Standardbriefmarke zu verkaufen, und die Genauigkeit, mit der öffentliche Uhren die Zeit anzeigten.
In den folgenden Jahren trieben sich der Professor und seine Studenten im Urlaub oder auf Dienstreisen überall in der Welt herum, um ihre Messungen anzustellen. Manche Resultate erschienen so unglaubwürdig, dass sie wiederholt werden mussten, ehe man ihnen glaubte. Das Ergebnis ist eine wundersame Tabelle, eine Rangfolge der kulturellen Schnelligkeit, die überraschende Details enthält.
Welche Länder am Ende der Tabelle von 31 Nationen stehen, ist wahrscheinlich am wenigsten überraschend: Am langsamten lebte man nach diesem System in Mexiko, Brasilien und Indonesien, während die Schweiz, Irland und Deutschland an der Spitze der Tabelle standen und Österreich, was wahrscheinlich kein Österreicher vermutet hätte, immerhin auf dem achten Platz lag. Die USA wiederum brachten es im hektischen New York zwar auf hohe Werte in der Gehgeschwindigkeit der Fußgänger, nahmen aber aufgrund der langsamen Bedienung am Postschalter und der weniger zuverlässigen öffentlichen Uhren nur Platz 16 in der Gesamtwertung ein.
Ein ausführlicher Abschnitt in "Eine Landkarte der Zeit" steht unter dem Titel "Zeitkompetenz". Darin wird in acht Lektionen dargelegt, was man zu berücksichtigen hat, wenn man sich auf ein fremdes kulturelles Zeitsystem einlässt. Wie tief die Fragen der Zeit das gesamte Leben erfassen, zeigt dabei Lektion fünf, in der die Rede von Tempounterschieden in intimen Beziehungen ist. "Wann ist es Zeit, von einem Stadium der romantischen Liebe zum nächsten weiterzugehen? An welcher Stelle geht ein Paar nicht mehr nur miteinander aus, sondern beginnt eine feste Beziehung? Häufig sind die Signale nicht einfach über Grenzen hinweg übersetzbar", schreibt Levine. Als Beispiel führt er an, dass für eine Amerikanerin eine Bindung erst "durch körperlichen Kontakt bindend" wird, etwa lange Küsse und Händchenhalten. In Japan oder Taiwan werde die Entwicklung einer Beziehung häufig ganz anders gesehen. Was für eine Amerikanerin immer noch eine rein platonische Freundschaft sein mag, könne dort auch von der Umgebung ganz anders interpretiert werden. "Für jemanden aus einer anderen Kultur ist Körperkontakt nicht nötig, damit andere zu der Ansicht gelangen, die Beziehung sei in das Stadium einer engeren Verbindung getreten."
Anhand zahlreicher Details versucht der Psychologe herauszuarbeiten, dass kulturelle Zeitauffassungen zu einem erlernten Lebensstil gehören und keineswegs universell gültige Systeme darstellen. Und er versucht, seinen Studien folgend, sein eigenes Leben neu zu gestalten: "Wie wir unsere Zeit einteilen und nutzen, definiert am Ende die Qualität und die Beschaffenheit unseres Daseins." Ein Satz, der so markant ist, dass er als Lebensmotto taugen würde.
Buchtipp.
Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit der Zeit umgehen.Verlag Piper, München, Zürich; 320 Seiten