Vor 70 Jahren entschloss sich die ÖVP zum Neustart. Zeitzeuge Ludwig Steiner erinnert sich.
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Wien. Im April 1945 war der Zweite Weltkrieg noch nicht vorbei, der Wille zum Neubeginn war dennoch nicht zu übersehen: Nach dem ÖGB am 13. und der SPÖ am 14. erfolgte am 17. April 1945 im Wiener Schottenstift die Neugründung der ÖVP. Mit dabei vor 70 Jahren waren Leopold Kunschak, Hans Pernter, Lois Weinberger, Leopold Figl, Julius Raab und Felix Hurdes.
Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Zeitzeugen Ludwig Steiner über diese aufregenden Tage und die ersten Jahre der Zweiten Republik.
"Wiener Zeitung": Warum entschlossen sich die Gründer der Volkspartei, eine neue Bewegung ins Leben zu rufen, statt an die Traditionen der Christlichsozialen der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen?Ludwig Steiner: Für die Wiener Partei ging es damals darum, nicht unmittelbar mit der Geschichte der Zwischenkriegsjahre fortzufahren. Die Demokratie dieser Zeit war ja nicht wirklich ein Vorzeigeprojekt, deshalb entschloss man sich 1945 zu einem Neustart. Man darf nicht vergessen: Demokratie und Parteien standen in keinem guten Ruf.
Sie waren am Ende des Krieges in Tirol: Was haben Sie von den Vorgängen in Wien mitbekommen?
Wir haben in Tirol mit Karl Gruber, dem späteren Außenminister, selbst eine "Demokratische Partei" gegründet. Erst einige Zeit später, im Juni, hatten wir erste direkte Kontakte zu den Wienern, allerdings war von Anfang an klar, dass wir keine separatistischen Absichten verfolgten, sondern die Einheit Österreichs bewahren wollten. Das war aufgrund der unterschiedlichen Besetzungszonen nicht einfach, wir in Tirol hatten mit den Amerikanern, später dann mit den Franzosen von Anfang an einen guten Kontakt, in Wien mit den Sowjets war die Lage anders.
Wie hat man im Westen auf die Unabhängigkeitserklärung der nur von Stalin anerkannten Provisorischen Bundesregierung von SPÖ, ÖVP und KPÖ unter Karl Renner reagiert, die am 27. April die Unabhängigkeit proklamierten?
Ich selbst habe im Provisorischen Landtag von Tirol den Antrag gestellt, diese Regierung nicht anzuerkennen, weil aus unserer Sicht diese Regierung zu linkslastig und unter besonderer Betreuung der Sowjetunion stand. Wir wollten uns zuerst erkundigen, was das da in Wien sein konnte, deshalb waren wir gegen die sofortige Anerkennung der Regierung. Gleichzeitig wollten wir verhindern, dass Österreich entlang der Besatzungszonen auseinanderfällt.
Wann wurde aus dem Wiener Projekt der ÖVP eine wirkliche Bundespartei, die von allen Landesparteien anerkannt wurde?
Das war Ende Juni, Anfang Juli 1945 klar. Das war wichtig, um die Teilung zu verhindern. Man darf nicht vergessen: Im Westen war die Lust, mit Wien, das heißt mit der Bundesregierung, zusammenzuarbeiten, nicht gerade groß.
Wie hat die ÖVP 1945 die eigene Vergangenheit aufgearbeitet?
Da gab es zum einen die Gesetze zur Entnazifizierung, die verhinderten, dass führende Vertreter des NS-Regimes erneut in wichtige Funktionen gelangen.
Und wie war es mit dem Ständestaat von Engelbert Dollfuß?
Das Jahr 1934 (Bürgerkrieg und Verbot der Sozialdemokratie; Anm.) ist zwar schon in einem gewissen Sinn verarbeitet worden, aber 1945 waren diese Ereignisse nicht die große Kluft zwischen ÖVP und SPÖ. Beide Seiten wollten damals gemeinsam Politik für Österreich machen. Weder die Sozialisten noch wir wollten an die 30er Jahre anschließen, es ging um einen wirklichen Neubeginn.
Welche Rolle spielte das Verhältnis der ÖVP zur katholischen Kirche 1945?
Wir wollten und hatten auch nach dem Krieg ein gutes Verhältnis zur Kirche, aber wichtig war, klarzustellen, dass die ÖVP kein Subunternehmen der Kirche ist. Es sollte künftig nicht mehr möglich sein, dass ein Priester Parteichef wird. Ignaz Seipel, Parteichef der Christlichsozialen und Kanzler in den 20er Jahren, war ja bekanntlich Prälat. Das wollten wir nicht mehr.
Wie kam es zur bündischen Struktur der ÖVP?
Den Ausschlag hat hier die Dominanz des Bauernbunds gegeben, dadurch waren alle anderen Interessen, vor allem die Wirtschaft und die Arbeitnehmer, gezwungen, sich ebenfalls zu organisieren.
Sie wurden Ende 1953 Kabinettschef von Bundeskanzler Julius Raab. Wie ist es dazu gekommen?
Mein damaliger Chef, Außenminister Gruber, geriet in Schwierigkeiten mit der Wiener Landespartei, worauf ich zum damaligen Bundeskanzler Raab gegangen bin und mich recht unverhohlen über den Umgang mit Gruber beschwert habe. Ich habe dann eigentlich mit meiner Abschiebung auf einen Diplomatenposten gerechnet, doch stattdessen hat mich Raab zu seinem eigenen Kabinettschef gemacht. Das war in vielfältiger Hinsicht eine gute Lehrzeit für mich.
Wer waren für Sie die prägendsten ÖVP-Politiker seit 1945?
Sicher zuerst Figl und dann Raab. Figls Politik war zutiefst von den gemeinsamen rot-schwarzen Erfahrungen der Lagerstraße und großer Kompromissbereitschaft gegenüber der SPÖ geprägt. Raab plädierte demgegenüber für eine stärkere eigenständigere Profilierung der ÖVP, weshalb es innenpolitisch zum Kurswechsel kam.
Hat die ÖVP in den vergangenen Jahrzehnten aus Ihrer Sicht schwere Fehler begangen?
Wissen Sie, wenn ich so zurückschaue, dann bin ich wirklich davon überzeugt, dass wir in Österreich - und damit meine ich nicht nur die ÖVP - gute Politik gemacht haben. Die beiden großen Parteien haben aus meiner Sicht keinen großen Fehler gemacht, der die Entwicklung des Landes behindert hätte.
Ludwig Steiner
Den Einmarsch der Nazis erlebte der Innsbrucker des Jahrgangs 1922 als 16-Jähriger; während des Krieges schloss er sich der Widerstandsgruppe des späteren Außenministers Karl Gruber an; 1945 verhandelte Steiner mit der 103. US-Infanterie-Division erfolgreich über eine Kapitulation Tirols; Anfang der 50er Sekretär von Kanzler Raab, 1961 bis 1964 Staatssekretär im Außenministerium, dann Botschafter; von 1979 bis 1990 für die ÖVP im Nationalrat. Und in einem Alter, in dem andere ihren Ruhestand genießen, übernahm Steiner 2001 den Vorsitz des Versöhnungsfonds zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern.