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Eine "schreckliche Erfahrung" sei der eben beendete Besuch bei seiner in Polen verheirateten Tochter gewesen, erzählt der rumänische Staatsbürger Valeriu Horváth, 69. Er und sein jüngster Enkel Andrzej hätten sich überhaupt nicht verständigen können. "Wir waren zehn Tage beisammen und wissen jetzt nichts voneinander."
Der verstörte Großvater erlebte somit in engster Familie, was die einstigen Satellitenvölker des Kreml großräumig zu gewärtigen haben - den Verlust ihrer gemeinsamen Sprache. Mit seinen älteren Enkeln vermochte sich Horváth noch recht passabel auf Russisch zu unterhalten. Nicht so mit dem zwölfjährigen Andrzej. Der lernt lieber Englisch.
Nebst vielen anderen gnadenlosen Plan-Ideen hatten die Bolschewiki auch diese: Der gesamte Raum zwischen Ostsee und der Mongolei sollte russifiziert werden. Egal, ob Letten, DDRler, Rumänen, Armenier, Usbeken, alle, alle fanden sich dazu verdonnert, ab der ersten Mittelschulklasse die Vokabel des großen Bruders zu pauken, zunächst acht Jahre lang bis zum Abitur und dann nochmals vier Semester an der Universität. Ohne bestandenes Russisch-Examen gab es keinen Hochschulabschluss, ohne Hochschulabschluss keinen guten Arbeitsplatz. Russisch war das unerlässliche Ticket zum sozialen Aufstieg. Selbst in Kuba erwies es sich als wichtige Sprosse der Karriereleiter.
Zugegeben, das obrigkeitliche Sprachendiktat hatte sein Gutes. Es forderte die Kommunikation im Riesenreich zweier Kontinente, erleichterte den kulturellen wie wissenschaftlichen Austausch, trug per Russisch-Schulbuch ein Quäntchen europäischer Kultur ins hinterste Asien, ersparte eine Menge zeit und zehntausende Dolmetscher. Die Zahl der Mischehen explodierte. Der Tauschhandel begann zu blühen. Den wortgewandten Kolchosbauern aus Georgien gelang es, ihre sauren Weine zu Überpreisen ins Baltikum zu verhökern.
Doch wie nützlich auch immer, das Einheitsidiom wurde weder geschätzt, noch gar geliebt. Im Bewusstsein der Moskauer Untertanen war es nicht die Sprache Tschechows, sondern die Faust der Revolution: Ein Instrument der Uniformierung, eine Bedrohung der völkischen Vielfalt und überaus schwierig noch dazu.
"Weg damit", hieß es denn auch bei der allerersten Gelegenheit im Umbruchsjahr 1990. Über Nacht durften Millionen Schüler ihre verhassten Vokabelhefte auf den Müllhaufen der Geschichte schleudern. Russisch wurde als Pflichtfach abgeschafft und zum Freigegenstand degradiert.
Inzwischen herrscht außerhalb Weißrusslands und der Russischen Föderation wieder das babylonische Sprachengewirr der Vergangenheit. In Turkmenistan etwa ist die Amtssprache Turkmenisch, in Tadschikistan selbstverständlich Tadschikisch. Das Russische als Klammer verliert stetig an Bedeutung. Bald wird es nur noch von den mittleren und älteren Generationen gesprochen werden. Mit jedem Jahrgang stirbt auch ein Stück Kommunikation ab.
Dazu kommt, dass es schon heute als "chic", "fortschrittlich" und "politisch korrekt" gilt, in offizieller Mission ausschließlich die jeweilige Nationalsprache zu benützen. Wenn Kiewer Wirtschaftsdelegierte - meist gelernte Altgenossen - mit ihren Moskauer Partnern verhandeln, geht nicht ohne Übersetzer. Die Ukrainer stülpen ihr Pokerface über und erwecken den Eindruck, lediglich Ukrainisch zu verstehen. Erst beim anschließenden Umtrunk, sobald der Wodka die Zunge lockert, verraten sie ihre ohnehin perfekten Russisch-Kenntnisse.
Am schnellsten stirbt das "Kommunisten-Esperanto" in Mittelosteuropa ab, vorrangig in den ehemaligen k.u.k. Gebieten Ungarn, Tschechien, Slowakei, Ostpolen, wo sich schon zu Kaisers Zeiten eine allseits anerkannte Lingua Franca durchgesetzt hat, nämlich das wienerisch gefärbte Hochdeutsch. Diese Staaten lag der Westen allemal näher als der Osten. Jetzt möchten sie auch sprachlich wieder dorthin zurück. Bei einer Umfrage des österreichischen Meinungsforschungs-Instituts IMAS behaupteten 38 Prozent der Tschechen, 35 der Slowaken und 21 Prozent der Ungarn, sie bemühten sich sehr, deutsch zu reden oder zumindest zu verstehen. Als die wesentlichsten Motive ihrer Anstrengung nannten sie den anschwellenden Urlauberstrom aus Deutschland, die wirtschaftliche Verflechtung mit dem deutschsprachigen Raum und last not least die veränderten Verdienstchancen. Tatsächlich wimmelt es auf den Annoncenseiten der Prager, Budapester und Pressburger Zeitungen von Jobangeboten mit der Formel "Deutschkenntnisse Voraussetzung".
Wie rapid der Russisch-Schwund vorangeht, demonstriert die akkurate ungarische Statistik. Sie weist 1988 als letztes orthodoxes KP-Jahr aus. Damals gab es im Unterricht noch keinerlei Pardon. Alle magyarischen Mittelschüler, fast eine halbe Million, büffelten Russisch, allerdings so widerwillig, dass sie am Ende ihre achtjährigen Studiums kaum mehr auswendig aufzusagen wussten als das simple Kindermärchen "Vorona i rak" ("Rabe und Krebs"). Zehn Jahre später war die Zahl der nunmehr freiwilligen Russisch-Schüler auf 9.000 abgesackt. Und heute liegt sie bei 3.800, mageren 1,4 Prozent des derzeitigen Schülerstands. "Ich kenne in meinem ganzen Bekanntenkreis kein einziges Kind, das nicht Englisch oder Deutsch vorzieht", konstatiert die Pädagogin Valerie Nemes mit leiser Bitterkeit. Sie war einst selbst Russisch-Lehrerin und wurde gemeinsam mit 3.200 Kollegen in einem dreijährigen Universitätskurs auf Englisch umgeschult.
Die konkreten Zahlen variieren von Land zu Land, der Trend aber ist überall im einstigen KP-Block der gleiche: Westliche Sprachen gewissen, östliche verlieren. Als die klare Nummer eins konnte sich Englisch etablieren, gefolgt von Deutsch, Französisch, Spanisch. Russisch wird generell für sinnlos erachtet, zumal ja auch das elterliche Beispiel nicht gerade ermutigend wirkt. Trotz der nolens volens absolvierten Langzeit-Paukerei meinen heute 96 Prozent der erwachsenen Ungarn, 87 der Polen und 60 der Tschechen, sie wären längst nicht mehr in der Lage, ein Gespräch auf Russisch zu führen.
Nicht einmal das traditionell russophile Bulgarien, oft als 16. Sowjetrepublik bewitzelt, widersetzt sich dem Sog des Westens. Das Sofioter "Nationale Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung" glaubt es genau zu wissen: Von 100 bulgarischen Kindern wollen 47 Englisch lernen, 21 Deutsch, je 10 Französisch, Spanisch oder Italienisch, höchstens zwei Russisch.
Ist also das Englische drauf und dran, in die Fußstapfen des Russischen zu treten? Man möchte es eigentlich wünschen.
Vielleicht haben die zahllosen kleinen Völkerschaften auf dem ethnischen Fleckerlteppich der zerbrochenen Sowjetunion letztlich doch noch Glück. Vielleicht mausert sich die Sprache der Engländer und Amerikaner auch jenseits des verschwundenen Eisernen Vorhangs zum kollektiv akzeptierten Kommunikationsmittel. Andernfalls droht in großen Teilen der angeblich globalisierten Zukunft die große Funkstille. Esten und Moldawier, Huzulen und Aserbaidschaner, Ruthenen und Tartaren, Mongolen, Osseten, Abchasier, Roma, Kirgisen usw. würden einander ähnlich sprachlos begegnen wie der rumänische Großvater und sein polnischer Enkel.