Nicht nur aus dem Ausland kommt Hilfe für die Ukraine. Auch die Ukrainer selbst sammeln Geld für ihre Armee.
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Der Mann hat sich bisher aus der Politik herausgehalten und sich stattdessen "aufs Wesentliche" konzentriert, sagt er. Nur habe sich eben geändert, was wesentlich sei. Sascha ist kein Mann vieler Worte. Wenn man den 39-jährigen Odessiten nach seiner Motivation fragt, warum er sich sechs Tage die Woche jeden Abend auf die Bühne stellt, ein Mikro in die Hand nimmt und von dort die nahezu immer gleiche Botschaft verbreitet, zuckt er mit den Schultern: "Wir leben in der Zeit, in der wir leben. Und das heißt, dass wir Opfer bringen müssen. Bis es vorbei ist. Und solange es nicht vorbei ist, werde ich sie verbreiten."
Es, das ist die Invasion der russischen Truppen, die seit Ende Februar die gesamte Ukraine angreifen. Sie - die Botschaft - lautet, dass die Gäste, die an diesen kühlen Frühlingstagen in Odessa ihren Weg in den kleinen Untergrundklub in der Puschkin-Allee finden, ihre Geldbörsen ebenso öffnen sollen wie jene, die seinen und die Auftritte seiner Künstler live vor dem Bildschirm verfolgen. Sascha, ein gedrungener Mann mit dichtem schwarzem Haar, gepflegtem Vollbart und beständig ernstem Blick, ist der Gründer und Besitzer des More Music Clubs. In nämlichem trifft sich seit sechs Jahren die alternative Musik- und Kulturszene der Hafenstadt am Schwarzen Meer.
Offiziell ist der Klub seit Kriegsausbruch geschlossen. Den fast täglich stattfindenden Livekonzerten dürfen deshalb nur Freunde und Familienmitglieder beiwohnen. Der Rest muss sich mit der Videoübertragung im Internet begnügen, was aber nicht so schlimm sei. "Wir machen einfach dort weiter, wo wir zu Covid-Zeiten aufgehört haben", sagt Sascha: "Mit einem Unterschied. Was wir erlösen, geben wir jetzt nicht mehr an die Musiker weiter, sondern an die Armee." Laut seinen Angaben habe damit keiner ein Problem. Im Gegenteil: "Wenn wir vom Klub das nicht beschlossen hätten, hätten es die Leute von sich aus gemacht."
In Ausnahmesituationen - und Krieg stellt vielleicht die extremste von allen dar - nimmt Hilfe vielfältige Formen an. Sichtbar manifestiert sie sich in West- und Mitteleuropa allem voran in humanitärem Engagement für jene 4,2 Millionen der rund 44 Millionen Ukrainer, die das Land bis heute verlassen haben. Wirtschaftlich äußert sie sich durch Abermilliarden, die die EU und die USA heuer in die Ukraine pumpen werden, um den kriegsbedingten Produktivitätsausfall abzufangen. Laut aktuellen Schätzungen der Weltbank wird die Wirtschaft des Landes 2022 im Vergleich zum Vorjahr um bis zu 45 Prozent einbrechen.
Andere Formen der Hilfe für die Ukraine sind indes umstritten. Das zeigt nicht zuletzt die Reaktion der Öffentlichkeit in Deutschland und Österreich über die von der ukrainischen Regierung nachdrücklich erbetenen Waffenlieferungen und Rohstoffimport-Stopps aus Russland. Nicht nur, weil es in Ländern wie diesen eine - in den jeweiligen linken Reichshälften besonders ausgeprägte - Tradition des Pazifismus gibt, sondern weil die politischen Eliten dort direkten Militärhilfen seit jeher skeptisch gegenüberstehen.
Militär nimmt nicht jeden
Auf den Straßen Odessas, das seit nunmehr fast zwei Monaten unter unregelmäßigem Beschuss der russischen Schwarzmeerflotte steht, stößt das Verständnis für ein derartiges Verhalten an seine Grenzen. "Was soll ich dir sagen. Bei uns im Klub sammeln sogar die Punks, die Psychobillys und die Hardcore-Leute Geld für unser Militär. Viele davon wollten selber in die Armee eintreten. Aber sie haben keinen genommen, der nicht schon militärische Erfahrung hatte", erzählt Sascha.
Darüber, wie viel im More Music Club bis jetzt an Spenden zusammen gekommen ist, will der studierte Ökonom, der bis vor dem Krieg auch als Konzertveranstalter in anderen Großstädten arbeitete, nichts sagen. Nur so viel: "Wir haben einen Deal mit dem Hausbesitzer, dass wir derzeit keine Miete zahlen müssen. Aber das Geld ist nur gestundet. Wenn sich die Situation hoffentlich bald normalisiert, müssen wir sie nachzahlen. Weil wir von dem Geld, das wir für die Armee sammeln, keinen Cent behalten, wird das hoffentlich langfristig nicht zum Problem werden."
Die Angst ums eigene Auskommen treibt in Odessa wie im Rest des Landes viele junge Leute um, die es sich in den vergangenen Wochen zur Aufgabe gemacht haben, die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten zu unterstützen. Von ihrem bedingungslosen Engagement für Letztere hält sie das nicht ab. "Es war wie eine Explosion. Wir sind drei Tage, nachdem die ersten Bomben gefallen sind, zusammengekommen und jeder wollte was tun", erzählt Demyan. Der 26-Jährige, der in Odessa aufgewachsen ist, arbeitet eigentlich in der Hauptstadt Kyiv als PR-Spezialist. Als der Krieg ausbrach, kam er in seine Heimatstadt zurück und zog wieder in die elterliche Wohnung ein. Zusammen mit einer Handvoll Freundinnen und Freunde stellte der schmächtige Bursche mit dem Ziegenbart und den so bunten wie betont unabstrakten Unterarm-Tattoos binnen einer Woche einen Betrieb auf, der einzig und allein darauf ausgerichtet ist, die Kämpfer an der Front bestmöglich zu versorgen: "Das reicht von Trinkwasser über Socken, Handschuhe und warmer Tarnkleidung bis zu Schutzmasken, kugelsicheren Westen und Helmen."
Das Hauptquartier der Operation bildet bis heute ihr Stammcafé in der oberen Hälfte der Katharinenallee im Zentrum Odessas; eines von jener Hipster-Sorte, das auch in Berlin-Mitte oder Wien-Neubau stehen könnte. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass hier eben mitunter auch schwereres Kriegswerkzeug verladen und ausgeliefert wird. "Ich gebe es zu: Der Krieg im Donbass war für uns ein wenig abstrakt, weil er so weit weg war. Aber jetzt hat jeder einen Bruder, eine Schwester, einen Vater oder einen Onkel, der für eine freie Ukraine kämpft. Und wenn wir schon nicht selber schießen können, können wir ihnen zumindest so helfen", sagt Demyan. Sei es nicht eigentlich Aufgabe der Regierung, dafür zu sorgen, dass die Streitkräfte ordentlich ausgerüstet sind? "Klar, theoretisch schon. Aber die Ausrüstung unserer Leute vor dem Krieg war halt nicht die beste. Und wir wissen nicht nur, wo wir das Zeug herkriegen, sondern wir sind auch schneller im Besorgen, weil wir uns nicht um die ganze Bürokratie kümmern müssen."
"Wichtiger als mein Job"
Davon, wie intensiv das Engagement der insgesamt rund 50 Leute zählenden Gruppe um Demyan ist, zeugen die Ringe unter den Augen seines Freunds Nazar. Der 27-jährige Kettenraucher ist in Kyiv geboren und aufgewachsen, lebt aber seit zehn Jahren in Odessa, wo er Journalismus studierte. Heute arbeitet Nazar als nationaler Korrespondent des ukrainischen Staatsfernsehens in der Hafenstadt, aber seit Kriegsausbruch verbringt er mehr Zeit mit dem Sammeln von Spenden fürs Militär als vor dem Mikrofon. "Das ist wichtiger als mein Job. Wichtiger als alles andere."
Theoretisch könnte Nazar als einer der wenigen Männer im wehrfähigen Alter - denen die Ausreise verboten ist - das Land relativ einfach verlassen. Seine Mutter ist Ukrainerin und lebt in der Hauptstadt, aber sein Vater, ein ehemaliger Diplomat mit afghanischen Wurzeln, ist dänischer Staatsbürger. Daran gedacht habe er trotzdem nie: "Abzuhauen kam nie in Frage für mich. Ich bin Patriot. Und wenn sie mich schon nicht kämpfen lassen, dann muss ich zumindest sonst alles tun, was ich kann, damit wir den Krieg gewinnen."