Guy Verhofstadt, Chef der europäischen Liberalen, über das lausige Krisenmanagement der EU
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Wien/Brüssel. Europa hat, sieht man von einigen eher kuriosen Lösungsvorschlägen zur Eurokrise ab, im laufenden österreichischen Nationalratswahlkampf keine wirkliche Rolle gespielt. Diese Nische haben nun die Neos für sich entdeckt, die am 29. September um den erstmaligen Einzug in den Nationalrat kämpfen, und haben am Freitag in Wien mit Guy Verhofstadt einen prominenten EU-Politiker als Unterstützer präsentiert. Die Aufbauhilfe kann die neu gegründete Partei unter Führung von Matthias Strolz und Angelika Mlinar gut gebrauchen. Auch programmatisch, zumal der belgische Fraktionschef der Liberalen im EU-Parlament als leidenschaftlicher Befürworter einer vertieften Integration gilt.
"Wiener Zeitung": Herr Verhofstadt, die EU hat gerade in Österreich für mehr Liberalismus, mehr Wettbewerb gesorgt. Mittlerweile allerdings haben viele Bürger den Eindruck, aus Brüssel kommen mehr und mehr kleinliche Vorschriften, die den Alltag unnötig regulieren, beim Rauchen, bei Glühbirnen, bei Olivenölfläschchen. Hat die EU ihre liberale Kraft verloren?Guy Verhofstadt: Ja, in Teilbereichen zweifellos. Wir brauchen einen gemeinsamen Binnenmarkt, aber unser Binnenmarkt ist weit stärker reguliert als etwa jener der USA. Wir haben zu viele unnötige Regulierungen und gleichzeitig zu wenig gemeinsame Politik. Wir müssen uns wieder auf das Wesentliche konzentrieren: einen gemeinsamen Rahmen für die Wirtschaftspolitik, für die Finanzen, für Pensionen und Arbeitsmärkte, das liegt auch in der Logik des Euro, aber nicht alle Details müssen einheitlich geregelt werden.
Sie verweisen gerne auf die erfolgreiche Krisenpolitik der USA, die Problembanken rekapitalisiert haben. Dass die US-Zentralbank Unmengen an frischen Dollars gedruckt hat, war Teil der US-Lösung. Empfehlen Sie das auch der Europäischen Zentralbank?
Nein, weil ich sehr wohl die Inflationsgefahr sehe. Die US-Fed wie auch die japanische Zentralbank haben einen breiter gefassten Auftrag. Die EZB macht im Wesentlichen zwar dasselbe, nur indirekt, indem sie Anleihen von Krisenstaaten erworben hat. Der Effekt ist der gleiche, wie das Anwerfen der Gelddruckmaschinen. Was ich fordere, ist ein gemeinsamer Anleihenmarkt für die Eurozone, um so die Zinsen zu senken und billiges Geld bereit zu stellen, welches bereits existiert und nicht erst gedruckt werden muss. Wir verfügen dank der Niedrigzinspolitik der EZB über ausreichend Liquidität, nur ist diese in den Banken geparkt und fließt nicht in die Realwirtschaft.
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel pocht darauf, dass erst die strukturellen Probleme der Südeuropäer gelöst werden, bevor über gemeinsame Eurobonds und Ähnliches nachgedacht wird.
Wir brauchen beides und das gleichzeitig. Die hohen Zinsen, die etwa Italien derzeit mit Unterstützung nordeuropäischer Steuerzahler berappen muss, fließen in die Taschen von Anleihegläubigern außerhalb Europas. Das ist widersinnig, zumal die Gesamtverschuldung der Eurozone weitaus niedriger ist als jene der USA und vor allem Japans. Trotzdem zahlen wir höhere Zinsen für Anleihen im Ausmaß von hunderten Milliarden Euro. Verrückt!
Der britische Magazin "The Economist" empfiehlt mit den Worten "Stick to Mutti" die Wiederwahl Merkels. Sie auch?
Ich werde mich hüten, mich in die deutsche Innenpolitik einzumischen. Entscheidend ist, dass die neue deutsche Regierung, egal, wie sie ausschaut, eine langfristige Vision für Europa entwickelt. Derzeit fehlt eine solche.
Merkel scheint sehr wohl eine Zukunftsvision von Europa zu haben: Sie will, so betont sie, einige EU-Kompetenzen zurück nach Berlin holen. In London, Stockholm, Den Haag und teilweise auch in Wien kursieren ähnliche Ideen.
Den Briten zu folgen, ist aus meiner Sicht eine der schlechtesten Ideen, die man haben kann. Das hieße, den Integrationsprozess selbst infrage zu stellen. Merkels Überlegungen stehen in einer langen Tradition deutscher Debatten über Europa: Schon Gerhard Schröder (Kanzler von 1998 bis 2005; Anm.) hat "Kompetenzabgrenzungen" zwischen Brüssel und Berlin gefordert. Genau dafür gibt es allerdings das Subsidiaritätsprinzip. Man kann durchaus über kleinere Verschiebungen nachdenken, das ist kein Problem. Entscheidend ist zu erkennen, dass wir Effizienz und Geld gewinnen können, wenn wir die richtigen Dinge auf EU-Ebene lösen. Das gilt vor allem für die Sicherheitspolitik, aber auch für Energiefragen. Und noch etwas: Ein System, bei dem sich 28 Regierungschefs einigen müssen, bevor Entscheidungen möglich sind, ist zu langsam, um Krisen zu meistern. Das haben wir in den letzten Jahren gesehen.
Sie fordern eine Wirtschaftsregierung für die Eurozone. Mit welchen Kompetenzen?
Es geht um die Festlegung verbindlicher Konvergenzkriterien, wie diese umgesetzt werden, soll der nationalen Ebene überlassen werden.
Machen wir es konkret: In Frankreich beträgt das gesetzliche Pensionsantrittsalter 62, in Deutschland demnächst 67 Jahre . . .
Es kann sein, dass man sich auf ein gemeinsames Antrittsalter einigt, man kann dies aber auch über ein Minimum an Versicherungsjahren lösen, das muss ausdiskutiert werden. Entscheidend ist, dass die Vorgaben sowohl Nachhaltigkeit als auch Wettbewerbsfähigkeit garantieren.
Sie werden, obwohl nur Chef der drittstärksten Fraktion, als Kandidat für die Nachfolge Barrosos als EU-Kommissionspräsident genannt. Trauen Sie sich das zu?
Eine solche Konstellation ist möglich, aber der Zeitpunkt noch zu früh, darüber zu diskutieren. Im Jänner entscheiden die Liberalen über den EU-weiten Spitzenkandidaten, im Juni sind die Wähler in den 28 EU-Staaten am Wort. Erst dann wird man wissen, wer im neuen EU-Parlament eine Mehrheit hinter sich hat.
Guy Verhofstadt, geboren 1953, ist Chef der liberalen ALDE-Fraktion im EU-Parlament. Der belgische Politiker war zuvor Ministerpräsident seines Landes in einer linksliberalen Koalition von 1999 bis 2008.