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Schneller Hammer, langer Tanz

Von Siobhán Geets

Politik

Dem Drängen auf eine Lockerung der Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus stehen Warnungen vor einer neuen Infektionswelle gegenüber. Es ist ein Balanceakt, der wohl noch lange dauern wird.


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Einige Wochen nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen gibt es in vielen EU-Staaten bereits erste Lockerungen - mit unterschiedlichen Prioritäten. Während in Österreich Baumärkte und kleine Geschäfte wieder Kunden empfangen, öffneten in Dänemark auch Volksschulen und Kindergärten. Frankreich will Mitte Mai die Öffnung aller Einzelhandelsgeschäfte erlauben. Und in Italien wird gestritten, ob Gottesdienste wieder stattfinden sollen.

Auch in Deutschland wird die Wirtschaft langsam hochgefahren. In einigen Bundesländern sollen die Schulen und Geschäfte ihren Betrieb wieder aufnehmen - was nicht nur bei Experten für Kritik sorgt. So warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstag vor zu viel Tempo der Bundesländer: "Ihre Umsetzung bislang bereitet mir Sorge." Das Vorgehen wirke mitunter "sehr forsch, um nicht zu sagen, zu forsch". Es dürfe kein Rückschlag riskiert werden: "Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie." Die Bevölkerung werde sich noch lange mit den Einschränkungen arrangieren müssen.

WHO warnt vor "Nachlässigkeit"

Zwar gebe es mittlerweile mehr genesene Personen als Neuinfektionen, so Merkel. "Das ist ein zerbrechlicher Zwischenerfolg", doch bewege man sich auf "dünnstem Eis", weil Neuinfektionen mit zwei Wochen Verzögerung in der Statistik auftauchten. Auch Österreichs Gesundheitsminister warnt, dass "die schwierigste Etappe unseres Marathons" erst beginnt. Man müsse nun "sehr konsequent und vorsichtig sein, um durch schrittweise Öffnungen keine zweite Welle auszulösen", sagte Rudolf Anschober am Donnerstag in Wien.

Der deutsche Virologe Christian Drosten fürchtet ebenfalls, dass bisherige Erfolge im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus durch die Lockerungen verspielt werden. Mit Blick auf volle Einkaufszentren müsse man sich "schon fragen, ob das alles wirklich sinnvoll ist". Der Chef der Virologie an der Berliner Charité fürchtet eine Situation im Mai oder Juni, "die wir nicht kontrollieren können, wenn wir nicht aufpassen".

Warnungen vor einer zweiten Infektionswelle angesichts der Lockerungen kommen auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). "Nachlässigkeit kann unser schlimmster Feind in diesen Tagen sein", sagte der WHO-Direktor für Europa, Hans Kluge.

 

Ein falsches Signal?

Der Grund für die Lockerungen ist die Reproduktionszahl, die fast überall sinkt. Sie gibt an, wie viele Menschen ein mit dem Coronavirus Infizierter im Schnitt ansteckt. Ziel ist es, die Reproduktionszahl unter eins zu halten, damit sich das Virus nicht exponentiell ausbreitet - und die Maßnahmen wieder verschärft werden müssen. In Österreich lag dieser Wert zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen Mitte März noch bei 2,5; mittlerweile ist er bei 0,63. Nur: Wenn die Menschen zu Ostern ihre Verwandten besucht haben, könnte die Reproduktionszahl in Wirklichkeit schon wieder höher sein.

Politiker und Experten befürchten zudem, dass die Lockerungen ein falsches Signal an die Bevölkerungen senden könnten: Wieso darf ich etwa im Baumarkt einkaufen aber nicht die Freunde zum Grillen einladen?

Für Unmut sorgt auch, dass etwa größere Geschäfte geschlossen bleiben. In Österreich dürfen lediglich Geschäfte mit weniger als 400 Quadratmetern aufsperren - das scheint vielen unlogisch. Für Mathematiker und Virologen scheint die Rechnung einfach: Je beschränkter die Kontakte, desto geringer das Risiko. Doch Unternehmen und Selbstständige kämpfen ums Überleben. Und auch für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen ist es wichtig, so rasch wie möglich wieder Ansprechpersonen außerhalb der Familie zu haben.

Die Entscheidungsträger zwingt all das in einen Balanceakt. Im Kampf gegen das Coronavirus folgen die meisten europäischen Regierungen der "Hammer und Tanz"-Strategie: Demnach muss die Verbreitung des Virus durch eine kurze Zeit der harten Maßnahmen (Hammer) schlagartig eingedämmt werden, bevor schrittweise wieder geöffnet wird (Tanz). Der erste Schritt ist dabei der einfachere. Viel schwieriger wird die nervenraubende Feinarbeit, in der Nutzen und Risiko immer wieder abgewogen werden müssen. Der Tanz wird wohl noch lange dauern: Mit einem Impfstoff rechnen Experten frühestens Ende kommenden Jahres.